Zahnfurche in keiner Weise ursächliche Beziehungen zur Zahnentstehung oder Zahnentwicklung
haben. So treten dieselben bei Erinaceus, Didelpbys und Tatusia erst zu einer Periode auf, wenn die
Zahnanlagen schon einen verhältnissmässig hohen Ausbildungsgrad erreicht haben; ebenso ist
bereits von ändern Autoren nachgewiesen worden, dass beim Menschen ein eigentlicher Zahnwall
zu keiner Zeit existirt. Dagegen scheint es mir nicht zweifelhaft zu sein, dass jene Bildungen
für die Configuration der Mundhöhle während der zahnlosen Lebensperiode von Bedeutung
sind. Sie gehören also jedenfalls zu derselben Kategorie wie die gleich zu erwähnende Lippenfurche
und einige andere Epithelialbildungen von transitorischer Natur und von gleichem Bau,
welche nur für den Embryo, respective für das junge Thier von Nutzen sind; vergleiche auch
oben pag. 17 und 43.
Die einzige Kieferfurche, welche etwa gleichzeitig mit der Schmelzleiste auftritt, ist die
Lippenfurche. Diese vertieft sich allmählich und wird mit Zellen ausgefüllt, so dass sie als Leiste,
„Lippenfurchenleiste“, in das Mesoderm hineinwuchert, aus welcher Leiste dann durch Zerfall
der in ihrer Mitte gelegenen Zellen das Vestibulum oris hervorgeht, wie ich dies im Unterkiefer
bei Erinaceus verfolgen konnte. Lippenfurche, respective Lippenfurchenleiste und Schmelzleiste
gehen aber hier aus getrennten Anlagen hervor; nur secundär können Schmelz- und
Lippenfurchenleiste streckenweise mit einander in Verbindung treten; vergleiche oben pag. 21,
22, 43. Aus meinen allerdings nicht sonderlich ausgedehnten Beobachtungen über diesen Punkt
erhellt jedenfalls, dass weder B aume’s Behauptung, dass die Schmelzleiste gewöhnlich aus der
Lippenfnrche ihre Entstehung nehme, noch R öse’s (I) Beobachtung, dass dieselben beim Menschen
aus einer gemeinsamen Anlage hervorgehen, verallgemeinert werden können. Deber die abweichenden
Verhältnisse im Oberkiefer bei Erinaceus siehe oben pag. 44.
Hier mag noch besonders betont werden, dass bei allen von mir untersuchten Thieren
die Anlage der Zähne und diejenige der Skelettheile völlig unabhängig von einander auftreten, und
bestätige ich hiermit nur das Resultat, zu dem alle neueren Untersucher gelangt sind. Es ist
dieser Umstand auch insofern von morphologischer Bedeutung und im Auge zu behalten, als
daraus hervorgeht, dass der Sitz eines Zahnes, ob im Zwischen- oder Oberkiefer an und für sich
nicht als ausschlaggebend bei der Homologisirung erachtet werden kann, wie dies meistens
noch geschieht. Im zweiten Theile dieser Arbeit werden wir finden, dass Zähne, welche bei
einer Thierform im Zwischenkiefer wurzeln, also Schneidezähne sind, bei einer naheverwandten
Form im Oberkiefer sitzenden Zähnen, also Prämolaren oder einem Eckzahne, homolog sind.
Bis vor kurzem ist die Schmelz- oder Zahnleiste, also ein zusammenhängender Fortsatz
des Mundhöhlenepithels, welcher sich in das Mesoderm einsenkt, als die erste Anlage und der
Ausgangspunkt der Zahnbildung angesehen worden. Neuerdings hat aber R öse (II, III) nicht nur
eine über das Niveau der übrigen Schleimhaut hervorragende Epithelialverdickung der Kieferränder
als die „primäre“ Schmelzleiste im Gegensatz zu der in das Mesoderm eingesenkten „secun-
dären“ beschrieben, sondern auch bei 11—12 Mm. langen menschlichen Embryonen zwei frei über
die SchleimhautoberßäcJie hervorragende, epitheliale Papillen gefunden, welche er als „letzte Residuen
der bei den Vorfahren vorhandenen primitiven Zähnchen“ auffasst. Was zunächst R öse’s primäre
Zahnleiste betrifft, welche nach ihm bei allen Wirbelthieren vorkommt — ausdrücklich hat er
später (X) ihr Vorkommen bei Katze und Schwein angegeben :— so habe ich eine dieser entsprechenden
Epithelialverdickung im Unterkiefer eines neugebornen Marsupium-Jungen von Didelphys
marsupialis angetroffen; dass ich dieselbe nicht bei dem jüngsten Erinaceus-Embryo fand,
kann darauf beruhen., dass dieser Embryo bereits eine höhere Ausbildungsstufe erreicht hatte.
Dagegen scheint es mir nicht angezeigt, die fraglichen Bildungen als primäre und secundäre
Zahnleiste von einander zu scheiden. Die erstere ist vielmehr als das Anfangsstadium der Zahnleiste
zu betrachten, und aus ihr geht direct die letztere, die sogenannte secundäre, hervor, ganz
so wie wir es von mehreren ändern Epithelialbildungen z. B. den Milchdrüsen und den Haaren
kennen. Wir halten also daran fest: bei den Säugethieren ist der Ausgangspunkt für die Zahnbildung
eine einheitliche Epithelleiste: die Schmelz- oder Zahnleiste, welche bei ihrer Entstehung
nach der freien Fläche des Mundhöhlenepithels zu eine Erhebung erzeugt, um unmittelbar darauf
in das Mesoderm hineinzu wuchern.
Ein freies Papillenstadium') ist bisher nur ganz vereinzelt, nämlich bei den Hautzähnen
der Selachier, bei einigen Zähnen der Triton-Larven sowie unter den Amnioten nur bei Crocodilen
und beim Menschen beobachtet worden. Die bisherigen Beobachtungen über diesen Punkt geben
jedenfalls noch keine genügende Basis für phylogenetische Folgerungen ab.
Sowohl aus B aume’s als meinen Untersuchungen geht hervor, dass die Schmelzleiste überall
da, ivo sie genügend tief in das Mesoderm eindringt, eine Verdichtung in diesem heroorruft. Wie ich
oben (pag. 15, Fig. 4, 5) näher ausgeführt habe, ist also diese Verdichtung und Abplattung der
Mesodermzellen durchaus nicht immer die Anlage eines Zahnsäckchens oder einer Zahnpapille,
sondern vielmehr als das rein mechanische Product des Eindringens der Ectodermleiste aufzufassen.
An den Stellen, wo die Schmelzkeime entstehen, schreitet durch den verstärkten Druck,
welchen diese auf die umgebenden Mesodermzellen ausüben, die Verdichtung und Abplattung der
letztem weiter zur Bildung von Zahnsäckchen und Zahnpapille, während durch die Rückbildung
der Schmelzleiste in den Zwischenräumen zwischen den Schmelzkeimen die von jener hervorgerufene
Differenzirung im Mesoderm wieder ausgeglichen wird.
Der Schmelzkeim entsteht durch Zellenwucherung, welche ausschliesslich oder doch'vorzugsweise
an der l a b i a l e n Fläche der Schmelzleiste stattfindet (Fig. 3, 4, 31); auch degenerirte
Zahnanlagen entstehen in derselben Weise (vergleiche oben pag. 23, Fig. 17—19).
Um den Ausbildungsgrad des SchmelzJceimes kurz charakterisiren zu können, habe ich drei
— natürlich allmählig in einander übergehende — Entwicklungsstadien desselben unterschieden:
1) das knospenf örmige: J die erste Differenzirung des Schmelzkeimes als schwächere oder
stärkere Anschwellung des Schmelzleistenendes; 2) das kappenförmi g e: der Schmelzkeim wird
grösser und umfasst die Zahnpapille ohne wesentlichere histologische Differenzirungen erlitten
zu haben; 3) das g l ockenf ö rmige: an dem tiefer ausgehöhlten Schmelzkeime ist unter all-
J) Es ist zu bemerken, dass RÖSE ganz neulich seine Auffassung von dem, was unter „freiem Papillenstadium"
zu verstehen ist, wesentlich modilizirt hat. In einer früheren Arbeit (XI) stellt er den Satz auf, dass „sich bei sämmtlichen
tiefer stehenden Wirbelthieren bis herauf zu den Urodelen die ersten Zahnanlagen in Gestalt von ausgeprägten, über das
Niveau der Schleimhaut emporragenden Papillen bilden,“ wesshalb ich (VI) darauf aufmerksam machte, dass bei den
Knochenfischen nach Caelsson's, auf meine Veranlassung vorgenommenen Untersuchungen jedenfalls kein freies Papillenstadium
vorhanden ist, ebensowenig wie ich es bei Iguana fand. In der inzwischen erschienenen Arbeit Röse’s (XII) über
die Zahnentwicklung bei den Knochenfischen ist der Begriff des freien Papillenstadiums dahin erklärt und erweitert: „ob
die Spitzen der Zahnanlagen sogar kuppenförmig über die oberflächlichste Zellenlage des Epithels hervorragen (Crocodile)
oder nicht, dieser Umstand ist ganz nebensächlich.“ Durch diese Erweiterung des Begriffes „freies Papillenstadium“ ist
nun allerdings jene thatsächliche Differenz zwischen CARLSSON’s und RöSE’s Befunden beseitigt. Zugleich muss ich entschieden
daran festhalten, dass ein freies Papillenstadium wie Röse es bei den Crocodilen fand und wie er es früher
definirt hat, bei den Knochenfischen n i c h t vorkommt.