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 Arbeit  voran,  obgleich  sie  das  Endresultat  der  in  jenem  besprochenen  Einzeluntersuchungen  sind.  
 Auf  diese  Art  werden  Wiederholungen  thunlichst  vermieden. 
 „Die  Deutung  der  Sinnesorgane  niederer  Tiere  gehört  ohne  Zweifel  zu  den  schwierigsten  
 Objekten der vergleichenden Physiologie  und  ist  der  grössten Unsicherheit  unterworfen.  Wir  sind  gewohnt, 
   die  von  den  Wirbeltieren  gewonnenen  Anschauungen  ohne  weiteres  auch  auf  die  wirbellosen  
 Tiere  der verschiedenen Kreise  zu übertragen  und  bei diesen analoge Sinnesempfmdungen anzunehmen,  
 als  wir  selbst  besitzen.  Und  doch  ist  es  viel  wahrscheinlicher,  dass  hier  wesentlich  andere  Sinnesempfindungen  
 zu  Stande kommen,  von deren eigentlicher Qualität wir  uns keine  bestimmte Vorstellung  
 machen  können;  wie  es  z.  B.  sehr  wahrscheinlich  ist,  dass  die  Empfindung  der  Licht-  und  Schallwellen, 
   für  welche  bei  den  höheren  Tieren  verschiedene  Organe  differenziert  sind,  bei  den  niederen  
 an  ein  und  dasselbe  Sinnesorgan,  natürlich  in  unvollkommener  Ausbildung,  gebunden  Vorkommen.“  
 Er n s t   Hackel.  Die  Familie  der  Rüsselquallen  (Medusae  Geryonidae)  pg.  118. 
 Keine Worte  wüsste  ich,  die  mir  geeigneter  schienen,  einer  Untersuchung  über  die  Sinne  
 niederer  Tiere  vorangestellt  zu  werden,  als  die  soeben  citierten  Sätze,  einer  klassischen  Abhandlung  
 eines  der  geistvollsten  Naturforscher  entnommen.  Der  für  mich  bei  Abfassung  vorliegender  Schrift  
 leitende  Gedanke  ist  in  diesen  Sätzen  ausgesprochen,  der  Gedanke,  dass  der  Sinnesapparat  niederer  
 Tiere  weit  einfacher  gebildet  sein  müsse  als  der  des Menschen  und  seiner  nächsten Verwandten,  und  
 dass  die  Vereinfachung  sich  vorzugsweise  in  der  Art  äussert,  dass  die  Funktionen  mehrerer  Sinne1)  
 an  ein  und  dasselbe  Organ  geknüpft  sind.  Diese Anschauung,  welche  für  die  ganze Behandlung  der  
 Sinnesphysiologie  niederer Organismen grundlegend ist,  kann jedoch nicht als die allgemein  herrschende  
 bezeichnet  werden.  Wenngleich  sie  nie  offen  bestritten  oder  gar  widerlegt  ist,  wird  doch  in Wirklichkeit  
 fort  und  fort  gegen  sie  verstossen,  indem  zahlreiche  Zoologen  die  bei  wirbellosen  Tieren  
 gefundenen  Sinnesorgane  mit  mehr  oder  weniger Mühe  in  den  Rahmen  der  menschlichen  Sinne  einzuzwängen  
 suchen.  Das  Endziel  ist:  die Organe  der  „fünf  Sinne“  bei  allen  Tieren  nachzuweisen. 
 Mir scheint die  von  H ä c k e 1  und  verschiedenen anderen Forschern vertretene weiterblickende  
 Auffassung  günstigere  Bedingungen  für  die  Ausbildung  einer  vergleichenden  Physiologie  der  Sinne  
 zu  bieten,  und  zu  ihr  denke  ich  in  vorliegender  Arbeit  einen  Beitrag  liefern  zu  können. 
 Die  Schwierigkeiten,  welche  die  Erörterung  sinnesphysiologischer  Fragen  bei  niederen Tieren  
 bietet,  beginnen  schon  damit,  dass  es  recht  schwer  ist,  zu  bestimmen,  ob  man  bei  den  niedersten  
 Vertretern  des Tierreiches  oder  gar  dessen Übergangsformen  zum  Pflanzenreiche  überhaupt  berechtigt  
 ist,  von Sinnesthätigkeiten  und  Sinnen  zu  sprechen.  Es  leuchtet  ja  ohne  weiteres  ein,  dass  die  Art,  
 wie Sinnesthätigkeiten  sich bei einem niederen Tiere oder Protisten  abspielen,  und  ebenso  die  Art  der  
 hier  zu  Stande  kommenden  Sinnesempfindungen  wesentlich  von  den  entsprechenden  Vorgängen  bei  
 Menschen  abweichen  wird.  Und  doch  ist  die menschliche  Sinnesphysiologie  immer  der  einzige  Ausgangspunkt, 
   von  dem  aus  wir  die  vergleichende  Sinnesphysiologie  in  Angriff nehmen  können.  Man 
 *)  Dem  von  Hä e k e l  an  genanntem  Orte  gewählten  Beispiel  kann  ich  nicht  ganz  zustimmen,  da  eine  
 Sinnesthätigkeit,  die  man  „hören“  nennen  kann,  erst  ziemlich  spät  im  Tierreiche  anftritt  und  dann  wohl  höchst  
 selten  an  Organe  geknüpft  is t,  welche  zur  Lichtempfindung  befähigt  sind.  Doch  ist  dieser  Punkt  hier  nicht  wesentlich.  
 Die Hauptsache bleibt,  dass  zwei oder mehrere  derjenigen Sinne, welche wir beim Menschen  unterscheiden, bei niederen Tieren  
 ein gemeinsames  Organ  haben können.  Dies  betont  Hä e k e l ,   und  dies  ist  auch die mich im  folgenden beschäftigende Frage. 
 kann auf die Sinnesempfindung niederer Wesen nur  von der eigenen Empfindung aus überhaupt Schlüsse  
 ziehen.  Wenn  dieser Weg wohl zuweilen als der  verkehrte  bezeichnet  worden  ist,  weil  er die Anwendung  
 der hochkomplizierten  menschlichen Verhältnisse auf die  niedersten Wesen  mit  sich bringt,  so ist  
 dieser  Einwand  nicht  begründet,  solange  nur  jene  Anwendung  mit  Vorsicht  geschieht,  in  bewusster  
 Würdigung  des  Schrittes,  den man  damit  thut.  Die  Meinung,  man könne  auch umgekehrt verfahren,  
 bei  den  niedersten Organismen  mit  der Analyse  der  psychischen  Akte  beginnen,  und  zu  den  höheren  
 aufsteigen,  beruht  auf  Selbsttäuschung.  Denn  stets  ist  unsere  eigene  Psyche  der  einzige  Ausgangspunkt  
 für  Beurteilung  psychischer  Akte  überhaupt.  Wer  über  die  psychischen  Prozesse  niederster  
 Wesen  zu  urteilen versucht,  legt  stets  etwas  von  seinem  eigenen  Seelenleben in jene hinein,  der eine  
 bewusst,  der  andere  unbewusst. 
 Auf  die  Frage,  ob  niederste  Tiere,  speziell  auch  die  einzelligen  Wesen,  und  überhaupt  jede  
 Zelle Bewusstsei n,   Wi l l e n ,   Empf indungsvermögen  besitzen,  kann  ich  hier  nicht  näher  
 eingehen,  verweise  vielmehr  in  dieser  Beziehung  auf  die Werke  von Wundt ,  *)  welcher  Forscher  
 diese  Fragen  mit  unübertrefflicher  Klarheit  erörtert  hat.  Gleich Wundt   halteich  die  Annahme  für  
 unumgänglich,  „dass  die Fähigkeit  zu  psychischen Lebensäusserungen  allgemein vorgebildet  sei  in  der  
 contractilen  Substanz,“  und somit  „dass die Anfänge des psychischen Lebens ebenso weit zurückreichen  
 wie  die  Anfänge  des  Lebens  überhaupt.“ 
 Wenn  ich  als  Voraussetzung  für  alle  folgenden Erörterungen  annehme,  dass  psychische  Prozesse, 
   speziell  Empfindung  bei  niedersten  Tieren  im  Keime  schon  existieren,  so  brauche  ich  wohl  
 kaum  hinzuzufügen,  dass  diese  Prozesse  jedenfalls  unendlich  verschieden  von  den  Vorgängen  in  der  
 menschlichen Psyche sind,  und namentlich unendlich  viel einfacher  sind.  Dieser Umstand  nun  bewirkt  
 es,  dass  man  sich nicht  gern entschliessen  mag,  die  niederen  psychischen Prozesse  der  niederen  Tiere  
 mit  dem  gleichen  Namen  zu  benennen,  den  wir  in  der  menschlichen  Psychologie  anwenden,  also  
 bei  einzelligen Wesen  von  „Empfindung“  zu  sprechen.  Verwendet  man  aus Mangel  eines  besseren  
 diesen  Ausdruck  trotzdem,  so  muss  man  sich  stets  dessen  klar  sein,  dass  mit  der  Aussage:  „Das  
 Wesen empfindet  den  Reiz,“  nicht mehr gesagt  sein  soll,  als  dass  mit  dem physiologischen Erregungsvorgang, 
   der  infolge  des  Reizes  eintritt,  gleichzeitig  ein  psychischer  Parallelvorgang  abläuft.2) 
 Hat  man  einmal  den  Schritt  gethan,  von  Empfindung  der  Zelle  zu  sprechen,  so  ist  es  eine  
 unumgängliche Consequenz,  auch  Sinne  bei  diesen einfachsten Organismen  anzunehmen.  Die  Sensibilität, 
   die  Fähigkeit  zu  empfinden,  kann  auch  definiert werden  als  die  Fähigkeit,  Sinnesthätigkeit3)  
 ausüben  zu  können.  Erfahrungsgemäss  haben  nun  schon  die  niedersten  Tiere  und  Protisten  nicht  
 einen,  sondern mehrere  Sinne:  Sie empfinden mechanische, thermische,  chemische Einflüsse,  viele  auch  
 den  Einfluss  des  Lichtes.  Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  dass  nun  immer  jedem  dieser Einflüsse  eine  
 besondere  Art psychischen  Vorganges,  eine besondere  Empfindung, entsprechen müsse.  Im Gegenteil, 
 *)  W u n d t,  W.,  Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie.  4.  Auflage  1893  S.  25. 
 2)  Ich  setze  hiebei  folgende  Definition  von  Reizbarkeit  (Irritabilität) °und  Sensibilität  voraus:  Die  I r r it a b il 
 i t ä t   besteht  darin,  dass  gewisse  auf  ein  Wesen  einwirkende  Kräfte  in  demselben  Vorgänge  physiologischer  Art  aus-  
 lösen  können,  ohne  dabei  die  Integrität  des Körpers  des  Wesens  zu stören,  indem  durch bestimmte weitere (physiologische)  
 Vorgänge  der  frühere  Zustand  alsbald  wieder  hergestellt  werden  kann. 
 Von  S e n s i b i l i t ä t   im Gegensatz  zu Irrita b ilitä t  wird  man  dann sprechen,  wenn  man  annimmt,  dass  den durch  
 den  Reiz  ausgelösten  somatischen Erregungsvorgängen psychische Parallelvorgänge,  wenn auch niederster Stufe,  entsprechen. 
 3)  S in n e s t h ä t i g k e i t   ganz  im  allgemeinen  definiere  ich  als  das  rasche  Eintreten  erster  primitiver  Veränderungen  
 im  psychischen  Zustande  eines Wesens  (Empfindung)  unter  dem  Einflüsse  einer  auf den  Körper  des  Wesens  
 einwirkenden  Kraft.