wurde. Aber schon in den Nachträgen zu jener Arbeit (IV,- pag. 139) sprach ich gegen diese
Auffassung einige Bedenken aus, welche eine allseitigere und präcisere Abwägung der ontoge-
netischen Verhältnisse bei mir hervorgerufen hatte. Nachdem ich nunmehr auch die vergleichendanatomischen
Instanzen im Zahnsystem der Insectivoren in Bezug auf diese Frage einer eingehenderen
Prüfung unterworfen habe, bin ich zu der Ueberzeugung gelangt, dass bei Erinaceus
die keinem Zahnwechsel unterworfenen Ante-Molaren ursprünglich der zweiten Dentition angehört,
dass sie aber in Folge des Verlustes der entsprechenden Zähne der ersten Dentition ihr
Entwicklungstempo beschleunigt haben und so allmählich auch ihrer Anlage nach in die Reihe
der ersten Dentition übergetreten sind, um zuerst mit dieser, später zusammen mit den Ersatzzähnen
zu funktioniren. Ich betone aber.ausdrücklich: von rein on t o gen e t i s chem Gesichtspunkte
war meine frühere Auffassung durchaus berechtigt; erst der vergleichend-anatomischen
Untersuchung war es Vorbehalten nachzuweisen, dass hier ein Fall von Cänogenesis vorliegt.
Jedenfalls predigt uns -dieses Beispiel wieder ein Mal mit allem wünschenswerth en Nachdrucke
die Wahrheit, dass die Embryologie a l l e i n nicht ausreicht, um morphologische Probleme
zu lösen.W
ir können also nicht erwarten, dass die Zähne derselben Dentition in allen Stadien
-völlig dieselbe Ausbildungsstufe einnehmen. Vielmehr lässt sich nachweisen, dass Zähne, welche
unbedingt der zweiten Dentition angehören, durch beschleunigtes Entwicklungstempo ihre Dentitionsgenossen
überholen, etwa gleichzeitig mit den Zähnen der ersten Dentition fertig werden
und zusammen mit diesen funktioniren. Es kann somit während der Entwickelung ein Ueber-
tr itt einzelner Zähne von der einen Dentition in die andere stattfinden, indem die Entwicklung
derselben beschleunigt oder gehemmt wird. Es sei hier auf den oberen C und C d bei Erinaceus
als ein besonders lehrreiches Beispiel dieser Art verwiesen (pag. 39). Es liegt ferner auf der
Hand, dass Zähne, deren verspätetes Auftreten ausschliesslich dem Pl a t zma n g e l im embryonalen
Kiefer zuzuschreiben ist (wie z. B. M 3 [„Weisheitszahn“] verglichen mit M 1 und 2),
desshalb nicht zu einer späteren Dentition gerechnet werden können.
Die dargelegten Thatsachen sind nun zum Theil allerdings der Art, dass sie die Frage
motiviren: giebt es bei den Säugethieren Überhaupt verschiedene Dentitionen? sowie: was ist unter
Dentition zu verstehen?
Während man bisher, von den Verhältnissen bei den höheren Formen ausgehend und
ohne den Begriff schärfer zu definiren, das Vorkommen zweier getrennter Dentitionen bei den
Säugethieren als feststehende Thatsache angenommen hatte, tra t 1882 B aume entschieden gegen
diese Annahme auf. B aume ging von der durch den damaligen Thatsachenbestand wohl berechtigten
Erwägung aus, dass es eine schwer zu erklärende Erscheinung sei, dass die höheren
Sänger ein gut ausgebildetes sogenanntes Milchgebiss besitzen, während man bei tiefer stehenden
Formen „eine ganz hübsche Scala des Rudimentärwerdens von verhältnissmässig gut entwickelten
bis zu dem schon in utero resorbirten Milchzahn“ nachweisen kann. B. nimmt desshalb an, dass
der Monophyodontismus das ursprüngliche bei den Säugethieren is t; der Diphyodontismus hat
sich .erst innerhalb der Classe ausgebildet. Nach ihm sind „bei den Säugern die multiplen Zahnanlagen
der Vorfahren in eine einzige umgewandelt worden.“ Es existirt desshalb nur ein „Schein-
dipbyodontismus“, darauf zurückführbar, dass „die verschiedenen Producte zu verschiedener Zeit
geliefert werden, und zwar die geringeren Producte zuerst, die besseren zuletzt. Ob die schwächeren,
hinfälligen Producte als Milch- oder als bleibende Zähne erscheinen, hängt, wie ich
(B aume) gezeigt habe, von Zufälligkeiten ab. So entsteht .durch die Zeitdifferenz der Anlage- das
Bild zweier Dentitionen.“ »Die zwei Dentitionen sind das passendste Arrangement um die ererbten,
mehr oder weniger entbehrlichen Zähne, welche nun einmal durch die Macht der Vererbung
entwickelt werden, zu verwerthen. Das Auftreten jener schwächern Producte in einer
Reihe genügt für dasjenige Thier, dessen Ernährung die Mutter überwacht. Dadurch gewinnen
die stark Entwickelten, höher specialisirten Ersatzzähne in dem stets wachsenden Kiefer Raum
und Zeit für ihre höhere Ausbildung.“ Ich habe die Argumente und Voraussetzungen, auf welche
B aume s Auffassung gegründet ist, bei verschiedenen Gelegenheiten sowohl in früheren Schriften
(III, IV) sowie in der vorliegenden Arbeit (pag. 23, 30, 58) besprochen und ihre Unhaltbarkeit
nachgewiesen *).
Während die B aume’sehe Theorie von Scheindyophyodontismus von den späteren Autoren
— wenn ich von Z uckerkandl absehe, welcher, sich auf B aume’s Argumentation stützend, ebenfalls
nur ei ne Dentition bei den Säugern anerkennt — entschieden zurückgewiesen worden ist. hat
sie neuerdings S chwalbe (I) in scharfsinnig modifizirter Form zur Geltung zu bringen versucht. S.
ist zu der Auffassung gelangt, dass beim Menschen die Prämolaren zu derselben Reihe wie die
Milchbackenzähne gehören. Während nämlich die „Milch- und Ersatz-Incisiven und -Caninen in
horizontaler labio-lingualer Richtung zu einander angeordnet sind, liegen die Prämolaren oder
Ersatzzähne der Milchmolaren schon vor Beginn ihrer Verkalkung vertikal über den letzteren,
eine Anordnung, die an Bedeutung gewinnt, wenn sich nachweisen lässt, dass bei der ersten
Anlage dieser Zähne ein Theil der Zahnleiste eine Verschiebung, Verlagerung erfährt. Ich
(S chwalbe) glaube nun, dass aus dem bis jetzt vorliegenden Material eine solche Annahme höchst
wahrscheinlich wird.“ Er findet, „dass während der Entwicklung der menschlichen Milchzähne
Theile der ursprünglich zwischen je zwei Milchzahnanlagen gelegenen Zahnleiste so verschoben
werden können, dass sie auf Schnitten als Ersatzleiste derjenigen Zähne erscheinen, zu
denen hin sie seitlich verschoben sind.“ S. kommt zu dem Schlusssätze, dass beim.Menschen der
Zahnwechsel im Gebiet der Prämolaren ein Scheindyophyodontismus, während er im Gebiete der
Schneidezähne und des Eckzahns wirklicher Diphyodontismus ist. Als den Hauptgrund für die
Verzögerung des Auftretens der Prämolaren betrachtet S. Raummangel.
Meines Erachtens verdient die von S chwalbe vorgetragene Auffassung im hohen Grade
die Aufmerksamkeit der Forscher, wenn auch die bisherigen Untersuchungen betreffs dieses
Specialfalles (Mensch) noch keine entscheidenden Belege für dieselbe ergeben haben. S. selbst
warnt auch ausdrücklich davor, diese Anschauung ohne weiteres auf alle Säugethiere mit Zahnwechsel
auszudehnen, und betont, dass seine Annahme in keiner Weise zu Gunsten eines ursprünglichen
Monophyodontismus zu verwerthen ist.
W oodward’s (II) Behauptung, dass bei Macropodidae P 3 nicht der zweiten Dentition
angehört, sondern, da er an einer Anschwellung des tiefen Randes der Schmelzleiste zwischen
den Anlagen des P d 2 und P d 3 entsteht, zu derselben Dentition wie diese gehört, habe ich
1) Wie wenig stichhaltig Baume’s wiederholte Behauptung ist, dass die schwächeren Zähne zuerst angelegt und
fertig werden, illustrirt in glänzender Weise, wie ich hier ergänzend bemerken möchte, der winzige, durchaus rudimentäre
obere P d 1 bei Phyllostoma, welcher noch auf dem kappenförmigen Schmelzkeimstadiam steht, wenn sämmtliche anderen
Milchzähne schon Hartgebilde abgesetzt haben, zum Theil fast ausgebildet sind.