Canarischen Funden gilt das zweite Kapitel. Es behandelt Holothurienlarven, welche
nicht nur die grössten, bis jetzt beschriebenen Echinodermenlarven darstellen dürften, sondern auch
durch die merkwürdige Gestalt ihres Arabeskensystemes von Wimperschnliren und durch manche
Eigentümlichkeiten in ihrer inneren Organisation die Aufmerksamkeit nicht minder fesseln, als
jene prächtigen Tornarien, welche ich früher hin von den Canarischen Inseln beschrieb. Da ich
an ihnen auch Aufschlüsse über die Anlage der Kalkrädchen erhielt, so wollte ich meine Beobachtungen
über die Bildung der Skelettheile bei Echinodermen um so weniger zurückhalten, als
sie einen Entwicklungsmodus kennen lehren, der den herrschenden mechanischen Theorien über
Skelettbildung wenig günstig sein dürfte.
Unter die auffälligsten Formen von Crustaceenlarven gehören jene bizarren Lepaden-
nauplien, welche wir durch D o h rn und Willemoes-Suhm unter dem Namen „Archi&oea“ kennen
lernten. Da ich von diesen Larven drei verschiedene Arten theils an der Oberfläche vor Oro-
tava, theils in grösseren Tiefen des Atlantischen Oceans und des Mittelmeeres erbeutete, so habe
ich sie in einem eigenen Kapitel eingehender geschildert. Repräsentiren sie doch unter den
Nauplien wahre Riesen, welche Schwanzstachel von anderthalb Centimeter Länge aufweisen und
zudem in instruktiver Weise lehren, wie die späteren Cypris-Puppen der Cirripedien innerhalb
des Nauplienkörpers angelegt werden. Indessen hoffe ich auch über den Bau der inneren Organe
— namentlich über die Ausbildung des Nervensystemes — Neues bieten zu können. Die auffällige
Verschiedenheit in der Gestaltung des Nauplius und der aus ihm schlüpfenden Cypris-
Puppe gab dann Veranlassung, die biologische Eigenart beider Larvenformen zu erörtern und
daran anknüpfend die Anpassungen an das Schwebvermögen bei pelagisch lebenden Crustaceen
darzustellen.
Schon bei den ersten Zügen mit dem Tiefennetz fielen mir Phronimiden auf, welche, kleiner
als die mediterrane Phronima sedentaria, durch die lebhaft rosenrothe Färbung ihrer Extremitäten
sich auszeichneten. Die zugehörigen Männchen entdeckte ich späterhin bei Las Palmas und
überzeugte mich bald, dass sie früher hin irrthiimlich für die Männchen der Phronima sedentaria
gehalten wurden. Eine Durchmusterung der früheren Fänge aus grösseren Tiefen des Mittelmeeres
führte mich zur Auffindung des bisher unbekannt gebliebenen Männchens der Phronima
sedentaria, welches -ft®wie ich an durch Prof. C. V o g t in Villafranca gefischtem Materiale nach-
weisen konnte — im Frühjahr an die Oberfläche aufsteigt und sich eine kurze Zeit lang in dem
Gehäuse des Weibchens zum Zwecke der Begattung auf hält. Ich benannte die atlantische Phro-
nimide Phronima Diogenes, ersah indessen späterhin, dass sie kurz zuvor (1887) von B o v a lliu s
als Plir. Colletti beschrieben worden war. Gewissermassen als Ergänzung zu den ausgezeichneten
Beobachtungen von Claus über die Phronimiden habe ich daher in einem vierten Kapitel die
Metamorphose der Männchen und speziell ihre sekundären Geschlechtscharaktere zu schildern versucht.
Zu den bemerkenswerthesten Bewohnern der grösseren Tiefen gehören unter den pelagischen
Crustaceen die Schizopoden. Bereits bei meinen ersten Excursionen im Mittelmeere erkannte
ich, dass die vom Challenger erbeuteten und von G. S a r s trefflich dargestellten Stylocheiron- und
Nematoscelis-Arten in grossen Schwärmen die unbelichteten Regionen bevölkern. Dasselbe Resultat
ergab sich bei meiner Ueberfahrt nach den Canarischen Inseln und meine Voraussage, dass
gerade die genannten Schizopoden-Gattungen einen wichtigen und constanten Bruchtheil der in
der Tiefe flottirenden Organismen abgeben, ist in vollem Umfange durch die Untersuchungen
der Plankton-Expedition bestätigt worden.
Man hat ja meinen in dem ersten Hefte dieser Zeitschrift niedergelegten Untersuchungen
über die Beziehungen der pelagischen Tiefseeorganismen zu der Oberflächenfauna bald zugestimmt,
bald widersprochen. Ich glaube mich vor einer Ueberschätzung des Werthes dieser Untersuchungen
und vor verfrühten Verallgemeinerungen freigehalten und allen berechtigten Ein würfen
durch Verbesserung der Instrumente entsprochen zu haben. Wenn meine Ergebnisse nun neuerdings
vom grünen Tisch herunter als „völlig werthlos“ bezeichnet wurden1), so glaube ich doch
immerhin mit Nachruck darauf liinweisen zu dürfen, dass die einzige bis jetzt vorliegende Prüfung
meiner Befunde, nämlich die von Ortmann gelieferte Bearbeitung der von der Plankton-
Expedition erbeuteten Schizopoden eine erfreuliche Uebereinstimmung aufweist. Selbst der einzige
Differenzpunkt, auf welchen O rt mann bezüglich der Tiefen Verbreitung der Schizopoden zwischen
den Befunden der Plankton-Expedition und meinen Angaben hin weist, ergibt sich nur aus
dem Umstande, dass ihm meine spätere Darstellung in dem Reisebericht unbekannt geblieben
ist. Zieht man die letztere in Betracht, so wüsste ich thatsächlich keinen Punkt anzuführen,
in dem die Darstellungen über die vertikale Verbreitung der Schizopoden wesentlich
auseinandergehen.
J) Giesb r e cht , welcher das obige Urtheil fällte, giebt in seiner Monographie der Copepoden folgende Darstellung
von der Entstehung meiner Untersuchungen: „Im August— Oktober 1886 machte Chun einige Fahrten mit dem
Dampfer der Zoologischen Station, im Golfe selbst wie vor Capri und zwischen Ischia und den Ponzainseln, um eine Wahrnehmung
zu studiren, welche bei früheren Fahrten des Stationsdampfers gemacht worden war. Es hatte sich nämlich
gezeigt, dass eine Menge pelagischer Arten, die in der kalten Jahreszeit die oberen Schichten des Wassers bevölkern, in
den heissen Sommermonaten trotz allen Fischens mit einem sehr grossen Oberflächennetz nicht oder nur spärlich zu finden
waren, dagegen regelmässig aus einer Tiefe von 100 und mehr Metern heraufgeholt werden konnten. Der daraus gezogene
Schluss, dass diese Arten im Sommer die Oberfläche verlassen und in die Tiefe steigen, wurde von Chun (1887) bestätigt.-
Der unbefangene Leser könnte nach dieser Darstellung vermuthen, dass ich Anschauungen, welche in der Station
gang und gäbe waren, aufgegriffen, bestätigt und zu meinen eigenen gemacht hätte. Diese sicherlich von dem Autor
nicht beabsichtigte Wirkung seiner Worte würde vermieden worden sein, wenn G i e s b r e c h t darauf hingewiesen hätte,
dass ich bereits in den ersten Publikationen der Station, nämlich im ersten Bande der „Mittheilungen“ (1879, p. 183)
und in dem ersten Bande der „Fauna und Flora des Golfes von Neapel“ (1880, p. 238) meine Wahrnehmungen über die
vertikalen Wanderungen pelagischer Organismen niedergelegt hatte. Niemand vermuthete vor meinen im Sommer 1877
begonnenen Untersuchungen, dass solche Wanderungen stattfinden. Damit kein Zweifel über den Sachverhalt obwaltet,
so gebe ich nochmals die Darlegung wieder, welche in dem ersten Hefte dieser Zeitschrift enthalten ist (1887, p. 50 u. 51).
„Ich will nicht auf die mehrfach geäusserten Yermuthungen über den Verbleib der pelagischen Fauna während
des Sommers eingehen, da ja die Frage durch meine Beobachtungen eine einfache Lösung gefunden hat. Ich war bereits
1877 auf die durch das bekannte Aufsteigen pelagischer Tliiere während der Nacht nahe liegende Idee gekommen, dass
sie im Sommer die Tiefe aufsuchen möchten. Um dem Verbleib mancher Ctenophoren nachzugehen, fischte ich in einer
Tiefe bis zu 100 Metern und es gelang mir, Formen aufzufinden, so Beroe ovata und Larven des Cestus, welche damals
im Hochsommer an der Oberfläche fehlten (die Ctenophoren des Golfes von Neapel 1880, p. 236—239). Auch Mos e l e v
(Nature Vol. 26. 1882, p. 561) mit seinem reichen Schatze von Erfahrungen, die er auf dem Challenger über pelagisches
Thierleben sammelte, stimmt bei Erörterung meiner Befunde der Auffassung bei, dass solche periodische Wanderungen
das Verschwinden pelagischer Thiere von der Oberfläche erklären möchten. Ich habe bei späterem Aufenthalt in Neapel
regelmässig die Fangmethode in der Tiefe angewendet, um mir Formen zu verschaffen, welche an der Oberfläche fehlten.
Im Frühjahr 1886 gedachte ich systematisch diese Versuche zu betreiben, doch setzte bald die ungünstige Witterung ein
Ziel. Auch Sa l va t o r e la B¡anco, ein trefflicher Kenner der marinen Thiere, fischte gemeinsam mit Dr. -Raf faele
während des Juni und Juli 1886 in einer Tiefe von 60—100 Metern, mit der Absicht, die Larven von Grundfischen zu
erbeuten. Dabei geriethen wiederum pelagische Thiere — vor allem kleinere Crustaceen und Lai'ven von Dekapoden —
in das Netz, welche an der Oberfläche fehlten. Solche Resultate bestärkten auch bei ihm, wie er mir erzählte, die Ver-
muthung, dass die Oberflächenformen mit Beginn des Sommers in die Tiefe steigen möchten.
Darauf freilich, dass ein Niedersinken in die grössten Tiefen stattfinden würde, war ich um so weniger vorbereitet,
als ja die Beobachtungen Mu r r a y ’s auf dem Challenger und die Experimente von Agas s i z ein Absteigen über
100 Faden Tiefe in Abrede stellen.“