
Der Flugapparat flugfähiger Insekten ist überaus kompliziert und bis in seine letzten Einzelheiten
durchkonstruiert. Der Vergleich der Insektenordnungen zeigte, daß die Flugmöglichkeit im
großen und ganzen überall auf ähnliche, nie ganz gleiche Weise erzielt wird. Und innerhalb der
einzelnen Ordnungen selbst ist die Natur noch immer am Werke, durch funktionelle Verschiebungen
Veränderungen vorzunehmen, die zu weiteren Spezialisierungen führen.
Genau dasselbe Bild steter Abänderungen ergibt sich, wenn wir zur Betrachtung des Flugapparates
flugunfähiger Käfer übergehen. Abänderungen nicht im Sinne des Aufbaues, sondern der allmählichen
Abrüstung eines in die Gesamtorganisation fest eingebauten Apparates. Am sinnfälligsten
ist diese Erscheinung im Schwund der Alae vom Makropterismus zum Apterismus, und diesen Vorgang
schildert das folgende Hauptstück. Daran schließt sich die Untersuchung über das Schicksal der
Flugmuskulatur und die über die Entdifferenzierung des Metathorax selbst.
B. Der Flugapparat flugunfähiger Käfer: Verlauf seines Abbaues.
I. B. 1. Vom Makropterismus zum Apterismus; ungeschlechtlicher Dimorphismus?
Wie eingangs bereits dargelegt wurde, ist bei einer Reihe von makropteren Chrysomelen bereits
Flugunfähigkeit eingetreten, ja, wie mir nach meinen Erfahrungen scheint, bei allen. Eine Rundfrage
bei den Coleopterologen der deutschen ent. Gesellschaft und der Nederl. ent. Vereeniging nach fliegend
beobachteten Chrysomelen ergab nur Negatives. Wie Dr. H o r n mir versicherte, fliegen auch die
exotischen Chrysomelen höchstens sehr selten,-am Lichte werde nie eine gefangen, Das letztere ist
allerdings auch nicht zu erwarten. Obwohl von hausaus echte Sonnentiere mit lebhaften metallischen,
besonders goldgrünen Farben, wie es die makropteren Arten heute noch vorwiegend sind, ist der Großteil
der brachypteren Chrysomelen zum Nachtleben übergegangen, was auch in der vorwiegend dunklen,
blauen, violetten und schwarzen Färbung zum Ausdruck kommt. Können wir demnach in der Gattung
Chrysomela selbst den U b e r g a n g v o n F l u g f ä h i g k e i t z u r F l u g u n f ä h i g k e i t auch
nicht mehr beobachten, so doch in der Tr i b u s de r Ch r y s ome l i n i . So ist bekannt, daß der gefürchtete
Kolorado-Kartoffelkäfer Le-ptinotarsa decemlineata fliegt. Besonders im Frühling und Sommer
wurden in Amerika während der warmen Tageszeit Schwärme beobachtet, wobei für die Flugrichtung
die Windrichtung entscheidend war (Circul. 87, U. S. Dep. Agr., June 1907; ferner C r o s b y and
L e o n a r d , Manual of vegetable garden insects, New York 1918; Dtsch. Pflanzenschutzdienst,
Merkblatt Nr. 5, 1925). Morphologisch-anatomische Befunde lassen vermuten, daß die im Gebirge
verbreitete Gattung Chrysochba {Orina) eben erst im Begriffe steht, die Flugfähigkeit zu verlieren und
vielleicht noch flugfähige Arten besitzt. Fliegende Exemplare dieser in den Alpen z. T. sehr gemeinen
Käfer habe ich dort bei zahllosen Spaziergängen und etwa 70 Hochtouren im Verlauf von 10 Jahren
nie beobachtet, auch keine Angaben darüber im älteren Schrifttum gefunden; um so freudiger überraschte
mich eine Mitteilung über einen „wahren Regen von Orina“ bei Lautaret (Hautes Alpes) von
H. T a r a v e l l i e r , auf die mich W. H o r n in liebenswürdiger Weise aufmerksam machte.
Nach vorhergehenden Schneestürmen folgten Tage mit brennendem Sonnenschein. Am 21. September
ein Uhr mittags traf T a r a v e l l i e r bei windstillem Wetter auf der sonnenbestrahlten,
völlig trockenen Straße von Lautaret (2073 m) nach la Grave (1525 m) einen wahren Regen von Orina,
der auf die Straße und nur auf sie niederging und sie einen Kilometer weit bedeckte. Obwohl Or.
elongata Suffr., speciosissima Scop. und cacaliae Scop. dort zahlreich sind, beteiligten sie sich nicht an
dem Fluge — von diesen ist, wie wir später sehen werden, cacaliae sicher meist flugunfähig. Ta r a v e l l
ier fand nur 2 Arten: Or. viridis Dft. (syn. nivalis Heer) var. Heeri Suffr. (5%), var. ignita Com.
(Hauptmasse), var. lugubris Wse. (3%) und Or. gloriosa F. mit 5 namentlich aufgeführten Variationen.
Die Käfer kamen von allen Seiten auf die Straße zugeflogen, Männchen und Weibchen gleich zahlreich,
aber ein Aufsuchen der Geschlechter fand nicht statt. „Nous supposons que ces insectes, surpris et
engourdis par une huitaine de jours passés sous la neige, se sont ravisés sous l’ardeur du soleil et sont
venus s’abattre sur la route parfaitement sèche pour faire de l’héliothérapie.“ Am folgenden Tage zur
gleichen Zeit, am gleichen Ort und unter gleichen Umständen war von Orina keine Spur zu finden.
Zur Untersuchung der Alae und ihrer Rückbildung wurden aus der Tribus der Chrysomelini
ca. 700 Exemplare verwandt und 230 Kanadabalsampräparate gemacht. Den größten Teil dieses Materials
bildeten bei uns häufige, von meinem Freunde H. K o f f 1 e r S. J. in Masse gesammelte Arten.
Für seltenere Arten wurde in erster Linie meine Palaearkten- und holl.-rheinische Faunensammlung
benutzt, ergänzend die von B r u c k sehe Sammlung des Zoolog. Institutes, wozu Prof. H e s s e in
dankenswerter Weise die Erlaubnis gab. Aus letzterer Sammlung wurden meist nur einem Exemplar
der verschiedenen Arten nach Aufweichung die Alae entnommen, was ohne Beeinträchtigung des
Sammlungswertes geschehen kann. Aus den registrierten Ergebnissen folgt zunächst ein nach dem
System geordneter Auszug. Soweit außerdeutsches Material vorlag, wird die Herkunft, meist in
Klammern und Abkürzungen, angegeben.
T rib u s d er C h ry som e lin i (Taf. I II—VIII).
Entomoscelina.
M e l a s o m a St e ph.
Alle 9 Arten des Cat. v. 1906 zeigten vollentwickelte Alae. M. populi L. und tremulae F. sind mir
als flugfähig bekannt.
P l a g io d e r a Erich.
Die einzige Art versicolor Laich, ist vollgeflügelt und, wenigstens in unserer Gegend, flugfähig.
E n t o m o s c e l i s Chevr.
Alle Arten makropter; flugfähig erscheint nur adonidis Pall.; sacra L. (Sarepta) zeigte zerknitterte,
hinfällige Flügel; auch bei rumicis F. (Alg.) war die Äderung recht schwach.
G a s t r o i d e a Hope.
Viridula Geer und polygoni L. makropter, scheinen in beiden Geschlechtern flugfähig zu sein;
wegen ersterer Art verweise ich auf den Abschnitt über den Abbau der Flugmuskulatur ; polygoni L.
fliegt bei uns wenigstens im männl. Geschlecht; unicolor Mrsh. (Lus. u. His.) zeigten schmale, ca. 1,5 mm
lange, häutige, nur an der Basis chitinisierte Rudimente.
G o l a p h u s Redt.
Sophiae Schall., Alae ziemlich kräftig, macht einen flugfähigen Eindruck; glaube aber nicht,
daß sie noch fliegt.