
postuliert werden, aber auf diesem Wege sei die Erscheinung des biogenetischen Grundgesetzes niemals
zustande gekommen. Denn wo die Verhältnisse (welche?) zur Rückbildung eines Organes drängen,
müßten weit mehr solcher Individuen zur Auswahl kommen, bei denen das Organ von vornherein
schwächer angelegt war, als solche, bei denen das Organ sich etwas zurückgebildet hätte. Das biogenetische
Grund-,,Gesetz“ und die Zufallstheorie der Selektionstheoretiker ständen in einem seltsamen
Gegensatz, der beweise, daß es sich hier um ein wirkliches G e s e t z der Entwicklung handle.
Wie nun W o 1 f f sich selbst die Rudimentationen erklärt, ist mir nicht klar geworden.
5. R o u x (1881) legt im Kapitel über den Kampf der Teile dar, daß Prozesse, welche auf Reizwirkung
nicht bloß die funktionelle Veränderung erfahren, sondern durch die Fähigkeit vermehrter
Assimilation gekräftigt würden, aus dynamischen Gründen im Kampf der Teile die Herrschaft erlangen
müßten, sobald sie einmal in Spuren aufgetreten wären. Der Nachweis, daß solche Reizsubstanzen
wirklich Vorkommen, interessiert uns hier nur für die Arbeitsorgane. „Die Schilderung der
Wirkung, welche Fernhalten des funktioneilen Reizes auf diese Organe ausübte, zeigte uns, daß dabei
in diesen Organen Entartung, Rückbildung, Schwund der spezifischen Teile entstand, und daher
mußten wir dem funktionellen Reiz eine erhaltende, also auch die Assimilation stärkende Wirkung
zuerkennen“ (S. 161).
Der auf den ersten Blick nicht unwahrscheinlichen Annahme, daß die Aktivitätshypertrophie und
die Inaktivitätsatrophie bloß Folgen der die Funktion begleitenden Hyperaemie, resp. des Ausbleibens
der letzteren mit dem Ausbleiben der Funktion seien, tritt R o u x durch den Nachweis entgegen,
daß die Ernährung nicht eine rein passive Erscheinung ist, sondern daß die Zellen fähig sind, bei vergrößerter
Nahrungszufuhr vergrößerte Nahrungsaufnahme zu verweigern, bei verringerter Zufuhr die
Aufnahme zu vergrößern oder konstant zu halten und bei konstanter Zufuhr bald mehr, bald minder
Nahrung aufzunehmen, eine Tatsache, die man heute kurz und treffend das Wahlvermögen der
Zelle nennt. Somit kann „die Aktivitätshypertrophie nicht mehr als eine Wirkung der funktionellen
Hyperaemie und ebensowenig die Inaktivitätsatrophie als eine Folge des Ausbleibens derselben
auf gef aßt werden, sondern die erstere erwies sich als eine Folge der Stärkung der Assimilationsfähigkeit
durch den funktioneilen Reiz, letztere als Folge der Schwächung derselben durch das Ausbleiben
des Reizes. Die funktionelle Hyperaemie dagegen erschien nur als eine begünstigende, vielleicht
aber nicht einmal unerläßliche Vorbedingung der funktionellen Hypertrophie“ (S. 163, 164).
Infolge der funktioneilen Anpassung können physiologische und morphologische Abänderungen
entstehen (S. 162).
Das Reizleben beginnt erst, wenn das embryonale Leben beendet ist (S. 18).
R o u x unterscheidet scharf die embryonale Variation (Mutation würden wir heute sagen) und
die Variation durch funktionelle Anpassung. Jene erfolgt richtungslos und kann beliebige neue
Formen hervorbringen (sie bilden die Grundlage für Darwins Selektion). Diese entstehen auf
dem Wege der Änderung des Gebrauches nach und nach und immer nur in bestimmter Richtung
(S. 202).
R o u x ist geneigt, den bestimmt gerichteten Abänderungen infolge funktioneller Anpassung
einen größeren Anteil an der Entstehung neuer Formen einzuräumen als D a r w i n s richtungslosen
Varianten, schon deshalb, weil jede mutative Variation wieder funktionelle Umgestaltungen zur Folge
habe (S. 204).
Das Prinzip der trophischen Reiz Wirkung sorgt beim Auftreten neuer Variationen für die nötige
Harmonie im Bau und der. Funktion der verschiedenen Teile des Organismus (S. 204).
Die Anpassung an den Reiz muß eine vollkommenere sein, je häufiger derselbe einwirkt. Ein an
häufigen Reiz gewöhntes Organ leidet durch Ausfall des Reizes in wenigen Tagen mehr als ein an seltene
Reize gewöhntes.
Extremitätenknochen werden bei Inaktivität leichter atrophieren als selten gebrauchte Schädelknochen
(!).
Hirnanhang, Zirbel- und Schilddrüse bleiben, obwohl sie nie stark aktiv waren, erhalten, da sie
noch vom Oberflächenreiz getroffen werden, während tätige Drüsen nach vollkommener Reizentziehung
schon in wenigen Wochen völlig atrophieren (S. 179).
Trotz verminderter Aktivität bleiben Organe bestehen, die keinen Kampf um den Raum zu
bestehen haben, wie dies bei den Ohrmuskeln des Menschen der Fall ist (S. 181).
„Eines der treffendsten Beispiele von Inaktivitätsatrophie der Knochen bietet der v o l l k
o m m e n e S c h w u n d der Zahnfortsätze der Kiefer nach dem Ausfallen der Zähne im Greisen-
alter, durch welchen z. B. der Unterkiefer um 1% bis 2 cm seiner Höhe erniedrigt und dadurch zu
einer runden Spange von Bleistiftstärke reduziert wird. Diese Atrophie nun läßt sich in derselben
Weise erklären wie die Atrophie der Arbeitsorgane, indem bei Mangel des funktioneilen Reizes weniger
oder kein Knochen neu gebildet wird, während die Knochenauflösung entweder dieselbe bleibt, oder
nur weniger sich verringert (S. 184).“
Die Verkleinerung eines Organes bei verringertem Gebrauch erfolgt nach R o u x aus einem doppelten
Prinzip; der verringerte Reiz hat eine Inaktivitätsatrophie zur Folge; an zweiter Stelle werden
solche Organe durch stärkere Nachbarn direkt beeinträchtigt und rasch bis auf jenes Volumen verkleinert,
„welches allein noch durch den Grad seiner Funktion für den Organismus von Nutzen ist
und durch diesen Grad der Funktion die Kraft erhält, weiteren Verkleinerungen durch die Nachbarorgane
Widerstand zu leisten“ (S. 105). S i n d Or g a n e völ l i g f u n k t i o n s l o s , so w e r d e n
s i e v ö l l i g a t r o p h i e r t u n d d a s u-m so r a s c h e r , j e s c h ä r f e r d e r K a m p f
u m d e n R a u m i st .
Da Aufgeben des Fluges als eine neu erworbene Eigenschaft bezeichnet werden kann, bleibt noch
die Frage, wie sich R o u x zu ihrer Vererbung stellt. Er glaubt an eine geringere Vererbung später im
Leben erworbener Eigenschaften als früherer, teils weil das Leben der Geschlechtszellen rasch an
Selbständigkeit zunehme, teils weil „im jugendlichen Körper ändernde Einflüsse leichter nicht bloß
lokal-formal bleiben, sondern man möchte sagen, leichter chemisch werden“ . „Durch die Zurückführung
erworbener Formveränderungen auf chemische Änderungen und durch deren leichtere Übertragbarkeit
auf den Samen und auf das Ei in dem chemischen Stoffwechsel, welcher zwischen ihnen
und dem Vater resp. der Mutter stattfindet, w i r d d a s P r o b l e m d e r V e r e r b u n g a l s
s o l c h e s a u f g e h o b e n und die Erscheinung auf ein allgemeineres P r o b l e m , das d e r G e s
t a l t u n g a u s c h e m i s c h e n P r o z e s s e n , welches die Grundlage der ganzen Biologie ist,
zurückgeführt“ (S. 61).
6. Für J i c k e 1 i (1902) erklärt sich die Rückbildung von Organen durch die Unvollkommenheit
des Stoffwechsels, der zwangsläufig jedes auf dem Gipfel ontogenetischer und phylogenetischer Entwicklung
stehende Organ erfasse, so daß solche Organe einer allmählichen Rückbildung verfallen,
obwohl sie gebraucht werden und dem Organismus sogar notwendig sind im Kampfe ums Dasein.
Ein Nichtgebrauch kann, wenn nicht nichts, so doch sehr wenig für die Rückbildung von Organen
tun; d i e R ü c k b i l d u n g ist vielmehr e i n e F o l g e d e s G e b r a u c h e s .
Zoologien. Heft 75. 9