
7. J a n e t fand, daß bei Lasius niger unmittelbar nach dem Ab werfen der Flügel der Abbau
der Flugmuskulatur erfolgt. Zur Erklärung dieser Vorgänge sagt er (J a n e t , 1907, p. 141):
„II s’agit ici, en réalité, d’un stade ontogénique héréditairement acquis par suite de la p e r s i-
s t a n c e p h y l o g é n i q u e d u n o n - f o n c t i o n n e m e n t . Ce stade est déterminé, au cours
de chaque ontogénèse, par une sénescence accompagnée d’un ralentissement, puis d’un arrêt de l’innervation.
Cet arrêt est, presque immédiatement, suivi d’une bionécrose, qui est le phénomène précurseur
d’une dégénérescence, bientôt suivie d’une histolyse par dissolution.“
Heben wir das diesen Auffassungen Gemeinsame hervor, so dürfen wir wohl sagen:
1. Alle sind darin einig, daß kein der Rückbildung verfallenes Organ plötzlich mit der Wurzel
oder auch nur sprungweise ausgerissen wird, sondern daß seine Verkümmerung von Generation zu
Generation tiefer abwärts steigt, später über die embryonale Entwicklung nicht mehr hinauskommt
und schließlich ganz verschwindet (J i c k e 1 i).
2. L a m a r c k , D a r w i n , W e i s m a n n und R o u x stimmen darin überein, daß nur
solche Organe rückgebildet werden, die nicht mehr gebraucht werden, die im Kampf ums Dasein nutzlos
(oder direkt hinderlich, wie Ameisenflügel, Tarsen einiger auf festem Boden grabenden Käfer)
geworden und damit dem Machtbereich der Selektion entzogen sind.
Wenn die Selektion unter den nicht mehr fliegenden Käfern erst die makropteren, dann die
mikropteren der Reihe nach ausrotten sollte, bis schließlich nur die apteren übrig blieben, und weiter
unter den Larven die mit Imaginalscheiben der Flügel zugunsten derer, die solche nicht mehr besitzen,
so wäre das nur denkbar, wenn jeder, auch der winzigste Grad einer Minus-Entwicklung des Flügels
einen selektiven Wert, einen Vorteil im Kampf ums Dasein darstellte, was man unmöglich annehmen
kann. Ob ein Caraims granulatus ein längeres, ein anderer ein kürzeres Rudiment der Ala besitzt,
kann doch keinen Unterschied im Wettbewerb bedingen. Im Gegenteil ist es sehr gut möglich, daß
gerade der makroptere durch andere Eigenschaften sich als überlegen erweist und den Sieg davonträgt.
Infolgedessen müßte gerade er und seine Nachkommen erhalten und die bereits kürzer geflügelten
Stücke ausgemerzt werden. Das widerspricht aber den Tatsachen, die uns besagen, daß ein einmal
einsetzender Rudimentationsprozeß mit zwangläufiger Folgerichtigkeit seinen Weg bis zu Ende geht,
unbekümmert um den Kampf ums Dasein, den die Individuen der betreffenden Art auf Grund irgendwelcher
anderer Vorzüge miteinander auszukämpfen haben. Gewiß ist es vorteilhafter, den Ballast
eines funktionslosen Organs nicht mehr zu haben als ihn weiter zu unterhalten; aber die Ausmerzung
geschieht nicht durch Selektion; wir brauchen zu ihrer Erklärung ein neues Prinzip, das J i c k e 1 i
mit Recht im O r g a n i sm u s selber sucht und in der Unvollkommenheit des Stoffwechsels gefunden
zu haben glaubt. Bevor wir auf seine interessanten Gedankengänge eingehen, müssen wir noch kurz
zu J a n e t Stellung nehmen.
Zunächst lehnt J a n e t die „rein finalistische Erklärung“ ab, daß Organe abgebaut werden,
weil sie dazu bestimmt seien, nicht mehr zu funktionieren. Nun, die Tatsache, daß Funktionslosigkeit
zur Rudimen tation eines Organes führt, wird doch wohl allgemein, auch von L a m a r c k und D a r -
w i n anerkannt; J a n e t selbst leugnet sie nicht und schreibt dem Prinzip des Nichtgebrauchs eine
entscheidende Rolle zu. Auch er macht den Nichtgebrauch für die Rudimentation verantwortlich,
aber nicht den aktuellen, ontogenetischen Nichtgebrauch, sondern einen permanenten, phylogenetischen
Nichtgebrauch, durch den eine erblich in die Ontogenese eingeschobene senectus praecox
entstanden sei. Nun möchte ich J a n e t fragen: Was ist denn konkret genommen die Phylogenese
anders als eine ununterbrochene Kette von Ontogenesen? Und wenn der Nichtgebrauch in den einzelnen
konkreten, leibhaften Ontogenesen nicht seinen Teil zur Entstehung der erblichen senectus praecox beigetragen
hat, wie kann dann der stammesgeschichtliche Nichtgebrauch, der doch ein Abstractum ist,
etwas bewirkt haben? Das ist doch geradezu unbegreiflich. Was J a n e t s Urteil m. E. getrübt hat,
Ist die von ihm selbst hervorgehobene Tatsache: die Bionekrose und Histolyse verlaufe nach dem Hochzeitsfluge
derart rasch, daß sich das nur durch einen Erbmechanismus erklären lasse. Ich weiß nicht,
ob ein solches notwendig ist. Denn die Lasiws-Königin, die sich selbst in eine Brutzelle einschließt,
deren Ovarien sofort in Funktion treten, deren Larven bis zur Imago aufgezogen werden müssen und
das alles, ohne daß Nahrung von außen aufgenommen wird, es sei denn ein Teil der selbst produzierten
Eier, ist auf ihre eigenen Reservestoffe angewiesen. Da. nun die Fettpolster der jungen Weibchen nach
J a n e t s eigenen Bildern durchaus mäßig entwickelt sind, ist es sehr verständlich, daß die funktionslose
Flugmuskulatur schleunigst histolysiert und verbraucht wird. Im übrigen ist das Tempo der
Histolyse wohl gar nicht so enorm; es dauert immerhin einige Wochen und bei Orina z. B., also bei
Tieren, die freileben und zudem Nahrung aufnehmen, scheint sie in etwa der gleichen Zeit sich zu vollziehen.
Ein phylogenetischer Nichtgebrauch kann also nur so verstanden werden, daß der durch zahllose
Generationen hindurch beschränkte oder völlig fehlende Gebrauch zu den Erscheinungen der Rückbildung
führt.
Der letzte Satz ist recht unbefriedigend in seiner vorsichtigen Fassung. Denn es liegt da noch
ein weiteres Problem vor. Wie kommt es, daß trotz langen Nichtgebrauchs die Bionekrose und Histolyse
bei Dytisciden, bei der Bienenkönigin usw. nicht einsetzt? Es ist nur eine finale Verbalerklärung,
wenn wir sagen, hier handele es sich nicht um funktionslose Organe, sondern um solche, die bei gegebener
Gelegenheit wieder gebraucht werden und deshalb erhalten bleiben. Diese sachliche
Schwierigkeit fand ich noch nirgends ausgesprochen und weiß auf sie keine Antwort. Nur für J i c k e 1 i
besteht sie nicht. Seine Hypothese sei nun näher* beleuchtet. Er verwirft das Prinzip des Nichtgebrauchs
und ersetzt es durch das des Gebrauchs. Er sagt: „Es ist eine von den Pathologen wiederholt
erwähnte Tatsache* daß jedes Organ gerade auf der Höhe seiner Leistung am meisten der Gefahr einer
Erkrankung ausgesetzt sei. Der weibliche Genitalapparat ist am ehesten unmittelbar nach der Geburt,
also nachdem er den Höhepunkt seiner periodischen Leistungen erreicht hatte, Erkrankungen ausgesetzt.
Die mit dem Namen der Entzündung bezeichneten Erkrankungen treten häufig infolge einer
besonders gesteigerten Leistung auf. Die Muskeln, welche bei bestimmten Geweben vornehmlich gebraucht
werden, versagen häufig auch früher. Beim schwangeren Uterus führt die physiologische
Rückbildung nach der Geburt nicht selten über die normale Reduktion hinaus zu einer Atrophie.
„Was hier stürmisch erfolgt, findet in der phylogenetischen Entwicklung langsamer aber nicht weniger
sicher statt. Jedes auf dem Wege phylogenetischer Entwicklung weiter fortgeschrittene Organ ist
auch zugleich ein phylogenetisch mehr belastetes und vererbt diese Belastung auf die nächste Generation,
und diese so von Generation zu Generation steigende Belastung muß schließlich langsamer, aber
ebenso sicher dorthin führen, wohin jene beschleunigt angesammelten übermäßigen Belastungen geführt
hatten, nämlich zum Versagen des Organes und zur Rückbildung“ (S. 273). „Hat ein Organ den
Höhepunkt der Entwicklung, welchen die phylogenetische Vergiftung zuläßt, noch nicht erreicht, so
wird dasselbe weiter nach aufwärts steigen* hat dasselbe dagegen diesen Höhepunkt bereits überschritten,
so wird dessen weitere Entwicklung nach abwärts gehen, das heißt, es wird die Rückbildung
beginnen.“
Bei homodynamen Teilen, wie es die Bewegungsorgane sind, soll die Rudimentation ebenfalls
ohne Anpassung an mechanisch wirkende Ursachen (Vererbung von Verstümmelungen), ohne funktio