
aber ich habe keinen einzigen Käfer kennen gelernt, der beim Verlassen der Puppenhaut in dieser
Hinsicht reif gewesen wäre. Die Beinmuskulatur ist natürlich in diesem Moment schon funktionsfähig,
denn sie ermöglicht ja erst das Auskommen, d i e F l u g m u s k u l a t u r e r r e i c h t a b e r
b e i f l u g f ä h i g e n u n d |lt u g u n f ä h i g e n K ä f e r n e r s t l ä n g e r e Z e i t n a c h d e m
S c h l ü p f e n d e n H ö h e p u n k t d e r E n t w i c k l u n'g. Die dazu erforderliche Zeit wird bei
den einzelnen Gruppen verschieden, braucht jedenfalls auch nach völliger Erhärtung und Ausfärbung
des Panzers noch nicht abgelaufen zu sein. Solche Stücke sind äußerlich nicht mehr von älteren,
maturen Jungkäfern zu unterscheiden, wohl aber anatomisch, einmal am Muskelbefund, sodann an
den festen Exkretstoffen, die — wenigstens bei Carabiden und Chrysomeliden -v- als kleine, weißliche,
flachrunde Körperchen im Thorax und im Abdomen liegen und erst nach und nach gelöst und aua-
geschieden werden. Ob immer, wenn der Begattungstrieb sich offenbart, auch die Muskulatur des
Flugapparates die Höchstentwicklung erreicht hat, wage ich nicht zu bejahen; denn die Fortpflanzungsorgane
sind bei frischen Tieren der Ausbildung der Muskulatur voraus.
Will man die Flugfähigkeit sicher ausgereifter Stücke durch das Inselexperiment untersuchen,
muß man auch in Betracht ziehen, daß manche Arten nur zur Zeit der Fortpflanzung von ihren Flügeln
Gebrauch machen. So dürfte die Sache bei Hylobius abietis L., dem braunen Kiefernrüßler, liegen. Wenn
überwinterte Stücke im Frühjahr zum Vorschein kommen, machen sie von ihren Flügeln keinen Gebrauch.
Ich erhielt im April 1924 von dieser Art 150 Stück zugesandt, die um diese Zeit massenhaft
in einen Fanggraben gelaufen waren. Die anatomische Untersuchung ergab für beide Geschlechter
eine kerngesunde Flugmuskulatur, die der Schwere des Tieres entsprechend entwickelt und reich mit
Tracheen durchsetzt war, so daß an der Flugfähigkeit im März und anfangs April n iehÄu zweifeln ist.
Ende April dieses Jahres flog ein Tier dieser Art zu meinem Fenster herein und Mai und Juni anderer
Jahre sah ich ebenfalls fliegende Stücke. J u d e i c h - N i f s>c h e (1895, I. S. 414) sagen übereinstimmend
hiermit, der braune Kiefemrüßler sei ein außer im zeitigen Frühjahr nur selten fliegender
Käfer.
Das negative Ergebnis der angeführten Inselexperimente wurde in dieser Weise kritisch gewertet.
Es bleibt für alle obengenannten Arten zu Hecht bestehen, die eingeklammerten allein auft)
genommen. JZei Plagwdera. handelte es sich um zwar ausgefärbte, aber bezüglich der Muskulatur noch
unreife Stücke; bei Gastroidm mridula G e e r kam ich zu keinem sichern Urteil; bei den Chrysomelen
haben wir es in der Tat mit vollgeflügelten, flugunfähigen Arten zu tun. Ihre Alae sind bereits zu
funktionslosen Organen geworden, die nicht einmal zur Zeit des Hungers und der Not in Tätigkeit
treten können. Vor die Wahl gestellt, zu fliegen oder zu verhungern, verhungern sie angesichts ihrer
nur wenige Zentimeter entfernten Futterpflanze. Es sei ausdrücklich hervorgehoben, daß es sich bei
den Chrysomelen um Arten handelt, die als Imagines Nahrung zu sich nehmen. Der Begattungs-
trieb ist sozusagen dauernd. Es war also auf Seiten der Versuchstiere der doppelte Antrieb vorhanden,
der zumeist den Flug der Insekten veranlaßt;
L a n g f l ü g e l i g k e i t u .n d F l u g f ä h i g k e i t s i n d d e m n a c h k e i n e g l e i c h -
w e r t i g e n B e g r i f f e . Die Unbekanntheit mit dieser Tatsache, oder sagen wir Heber, ihre Nichtbeobachtung
hat zur Folge gehabt, daß man auf Schritt und T ritt in der Literatur langflügeHge Käfer
ohne weiteres als flugfähig angegeben findet, auch bei Forschem mit großem Namen. Wie es in dieser
Hinsicht mit dem Seidenspinner und der Nonne steht, ist allerdings bekannt. Ti t s c h a c k (1922) fand
nOI1prrlingg daß auch bei der Kleidermotte die Mehrzahl der Weibchen nicht fliegt. Nach F e r d .
S c h m i d t und S c h i n e r ist die in Höhlen lebende Diptere Pkrra aptim, S c h i n . und Egg.
„auf keine Weise zum Fliegen zu bringen“, was H a m a n n (1896, S. 142) aus eigener Erfahrung
bestätigt. Diese Fliegenart ist nach den Autoren langgeflügelt, die Flügel voll geadert, wenn auch die
obere Zinke der dritten Ader rudimentär sein kann. Wird jetzt, die Aufmerksamkeit auf solche Vorkommnisse
gelenkt, so werden zweifellos in allen Insektenordnungen neue derartige Beispiele entdeckt
werden.
Um sie systematisch hervorheben zu können, müssen wir bei den Pt e r y g o t a m a k r o p t e r a
vol ant i a und n volant ia- unterscheiden; die erstoren zerfallen wieder in vol ant i a per vi t am
v o l a t i l i a , die entweder, wie manche Cicindelen, während ihres ganzen Imaginallebens den Flug ausüben
oder doch wenigstens zu gewissen Zeiten fliegen, und in vol ant i a ad t empus volat i l ia,
wie die zur seßhaften Lebensweise übergehenden Ektoparasiten, z, B. Lipoptena Cervi, L., oder die
Ameisenweibchen, die nach dem Hochzeitsflug sich der lästigen Flügel entledigen.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß wir es bei den langgeflügelten, flugunfähigen Chrysomela-
Arten mit den ersten Anfängen der Rudimentation des Flugapparates zu tun haben. Nach der Arbeit
0 e r t e 1 s über die stark rudimentär geflügelten Garabus-Arten kann es als eine dankbare Aufgabe
bezeichnet werd^-; einmal die Anfänge und den weiteren Verlauf dieser Rückbildungserscheinung
zu untersuchen.
Wollen wir die Wandlungen, die sich beim Abbau des Flugapparates ehemals flugfähiger Käfer
vollziehen, verstehen, so-setzt das Vertrautheit mit dem Flugapparat flugfähiger Käfer voraus. Sie
zu gewinnen, ist daher die erste Aufgabe. Haben wir dann ein klares Bild davon bekommen, wie der
Abbau vom MakropterismuS zum Apterismus, rein äußerlich betrachtet). verläuft, dann erst können
wir darnach trachten, auch die inneren Ursachen kennen zu lernen. Es werden uns die Fragen beschäftigen:
wie kommt ;Ss überhaupt zulghleher Rückbildung? Ist ihr Beginn bedingt durch eine
sprunghaft auftretende Funktionsunfähigkeit oder durch Ausschaltung des Organes aus dem Kampf
ums DaseingjDie Frage läßt sich experimentell nicht erfassen, aber wenn wir die tatsächliche Ver-
b re illljid e r Flugunfähigkeit und die Lebensweise der Käfer in Parallele bringen, dabei besonders
die Insel-, Gebirgs- und Höhlenfauüa beachten, glaube ich, kann-man eine definitive Antwort auch
heute schon geben. Dann aber bleibt als dunkles Geheimnis die Ursache der Rückbildung übrig Und
hier kommen wir vorerst über eine Hypothese nicht hinaus.