üelle Anpassung im Kampf ums Dasein oder geschlechtliche Zuchtwahl einzig durch die bei gleicher
Punktion verlangte größere Arbeit und damit erfolgende frühere Vergiftung eintreten.
Die gesteigerte phylogenetische Vergiftung info'ge der Unvollkommenheit des Stoffwechsels
trete an sich beim stofflich schlechter gestellten Männchen früher als beim stofflich besser, gestellten
Weibchen hervor; dies könne aber dadurch ins gerade Gegenteil Umschlägen, daß ein bestimmtes Organ
des Weibchens mehr arbeite, als das gleiche Organ des Männchens. Zu diesen Organen sollen in vielen
Fällen die Bewegungsorgane deshalb gehören, weil die Weibchen große Massen von Eiern und unter
Umständen sich entwickelnde Embryonen längere Zeit mit sich umherschleppen . . . . „In der
großen Abteilung der Insekten begegnen wir sowohl Arten mit flügellosen Männchen, als solchen,
wo die Flügel gerade den Weibchen fehlen. Im Sinne unseres Gedankenganges hätte in allen Fällen,
wo die Flügel ausgiebig gebraucht werden, deren Rückbildung beim Männchen beginnen müssen.
Wo das nicht der Fall ist und nicht das Männchen, sondern vielmehr das Weibchen zuerst flügellos
wurde, müßte das darauf zurückgeführt werden, daß die viel größere Arbeit, welche die Flügel der Weibchen
zu leisten hatten, nicht nur den Abstand in den Rückbildungsprozessen/welche zwischen Männchen
und Weibchen bestehen, ausgeglichen hat, sondern darüber hinaus so groß wurde, daß sogar die
phylogenetische Belastung dieses Organes beim Weibchen diejenige beim Männchen überholte“
(S. 277).
Absichtlich habe ich J i c k e l i s interessanten, weil weniger bekannten Erklärungsversuch ausführlicher
dargel.egt. Er führt aber zu den merkwürdigsten Folgerungen, die man unmöglich annehmen
kann. Nach J i c k e 1 i hat eine der Atrophie der Augen vorangehende Hypertrophie den Übergang
zur nächtlichen Lebensweise bezw. zum Leben im Dunkeln erzwungen, der Verlust der Bewegungsorgane
festsitzende und parasitische Lebensweise zur Folge gehabt, der Verlust des Flugvermögens
zu einem Leben gezwungen, bei dem auf Gebrauch der Flügel, verzichtet werden kann, und solche
Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Wo immer wir ein rudimentierendes Organ finden, müssen
wir nach J i c k e 1 i imnehmen. daß dort der Höhepunkt der ontogenetischen und phylogenetischen
Entwicklung überschritten ist. So müßten alle fluguntüchtigen Käfer von Vorfahren ahstammen,
die den für ihre Organisation zulässigen Gipfel der Flugtüchtigkeit erreicht hatten. Nun aber wissen
wir, daß die Baihysda-Arten in den Karsthöhlen von flugunfähigen Vorfahren abstammen. Das gleiche
ist bei den flugunfähigen, in Deutsch-Südwest in geographischer Isolation entstandenen Tenebrioniden
der Fall. Es ist doch merkwürdig, daß fußlose öder mit Kümmertarsen versehene Käfer sich nur unter
den auf hartem Boden grabenden Familien der Coprophagiden und Histeriden finden, während auf
weichem Boden oder im Mulm denBäume grabende Gruppen ihren Fuß behalten haben. Sollen jene
deshalb harten Boden aufgesucht haben, weil sie des Fußes entbehren? Oder, soll bei den Käfern mit
tarsenlosen Vorderbeinen der Fuß zuerst die maximale Entwicklungshöhe erreicht haben? Das kann
auch nicht sein, denn nicht der Tarsus, sondern die mächtig gezahnte Tibia bildet das Grabinstrument,
der Tarsus ist hier nur ein lästiges Anhängsel. Sollen die flugunfähigen Käfer, die in Dauernestern und
Dauergewässern wohnen, während ihre flugfähigen Verwandten in Nestern und Gewässern von zeit-
lieh beschränkter Dauer leben, deshalb einen Wohnwechsel vollzogen haben, weil sie flugunfähig ge-,
worden sind? Wir wissen, daß einzelne flugfähige.und sehende Käfer zum echten Höhlenleben übergegangen
sind, und J i c k e I i wird doch selbst nicht annehmen wollen, daß diese dauernd und ewig
Flugkraft und Sehvermögen behalten werden, weil sie den Gipfel der Organbildung nicht mehr, erreichen
werden, da diese Organe beim Höhlenleben selektiv nicht mehr gefördert werden können. Bei
Ameisen sollen die Arbeiterinneh diesen. Höhepunkt schon weit , überschritten haben und aus phylps
genetisch soAtarlc belasteten Eiern sich entwickeln, daß es nur noch zur Anlage von Imaginalscheiben
kommt. J i c k e 1 i selbst führt dieses Beispiel an, scheint aber ganz zu übersehen, daß aus blastogen
gleichwertigen, bezw. gleich vergifteten Eiern nicht nur flügellose Arbeiterinnen, sondern auch geflügelte
Weibchen hervorgehen.
‘ Die unabwendbare, blindwütige Vergiftung soll sogar Organe befallen, die „nicht nur nützlich,
sondern sogar notwendig sind“ (S. 272). Das sind schone Aussichten für den Homo sapiens, wenn das
Hirn der geistig höchststehenden Kopfarbeiter, die Hand des tüchtigsten Kunsthandwerkers eines
Tages infolge phylogenetischer Maximalvergiftung zu schrumpfen beginnt. Tiere, die durch dieses
harte Gesetz die notwendigen Organe verloren und bereits ums Leben gekommen sind, führt J i c k e 1 i
allerdings nicht an.
Es läßt sich ja nicht leugnen, daß mit dem Verlust mancher Organe durch Rückbildung unter
Umständen ein Schaden für Individuum und A rt erwachsen kann. Ein Seehund und ein Pinguin, vom
Jäger auf dem Strande überrascht, wären sicher froh, wenn sie sich durchLauf bezw. Flug retten könnten,
aber nqrmalerweise und in ihrem Milieu fühlen sich doch alle durch Rudimentation „geschädigten“
Lebewesen, Pinguin und Seehund, Floh und Bandwurm, außerordentlich wohl. Wir bleiben deshalb
wohl besser bei der Ansicht, daß die Rückbildungen d tt .Flugapparates bei Käfern nicht durch ein
blindwütendes, in der 'Ünvollkommenheit des'1 Stoffwechsels begründetes Gesetz herbeigeführt
werden^ daß die Rudimentation vielmehr nur durch die durch Übergang zur festsitzenden und
parasitären, nur nächtlich laufenden und hypögäen usw. Lebensweise funktional» gewordenen,
weil nicht mehr gebrauchten Organe befällt, wie dies auch L a m a r c k und D a r w i n und
viele nach ihnen angenommen haben. Wir müssen uns also nach weiteren, im Tier liegenden
Prinzipien umsehen, die den Prozeß der Rückbildung eines der Selektion entzogenen Organes
herbeiführen.
• Als solche k o n n t e n m. E. nur noch zwei im Sinne R o u x ’ (1881) sich vielleicht widerstreitende
Prinzipien in Frage kommen, einmal die Tendenz zu gesteigerter Fruchtbarkeit, die für weibliche
Flugunfähigkeit verantwortlich sein könnte, sodann die Tendenz zu starker Panzerung, die über
das Flugvermögen gesiegt haben könnte.
Im Kapitel über den Abban der Flugmuskulatur wurde bereits die Physogastrie der Weibeben
erwähnt, die stets mit enormer Fruchtbarkeit verbunden: ist, also mit der Fähigkeit zu reicher Ausbildung
und Dehnungsfähigkeit der abdominalen Intersegmentalhäute, die nicht von vornherein
gegeben, sondern im Laufe der Stammesgeschichte erworben wurde. Flugunfähigkeit ist aber bei
Käferweibchen weiter verbreitet als Physogastriei-physogastre Weibchen bilden unter den mcht-
physogastren, flugunfähigen geradezu eine Ausnahme. Letztere sind alle t r o t z f e h l e n d e r
P h y s o g a s t r i e f 1 u g u nf ä h i g geworden. Also kann d l e U i s a c h e der Entflügelung nicht
in der Tendenz gesteigerter Fruchtbarkeit liegen. Ginge der zunehmenden Physogastrie eine zunehmende
Rudimentation des Flugapparates parallel, dann müßten wir annehmen, daß die Tendenz
gesteigerter Fruchtbarkeit die Tendenz der Ausbildung des Flugapparates vergewaltige und die für
den letzteren nötigen Baustoffe mehr und mehr an sich riß. liegen aber die Verhältnisse nicht.
P h y s o g a s t r i e u n d F l u g f ä h i g k e i t k ö n n e n n e b e n e i n a n d e r b e s t e h e n , wie
das z. B. bei Sitodrepa panicea in beiden Geschlechtern infolge der Reservestoffe und der Geschlechtsprodukte
der Fall ist; sobald aber das Abdomen normale Proportionen angenommen hat, fliegen die
beiden Geschlechter. Die Tendenz zu gesteigerter Fruchtbarkeit ist also weder die Ursache noch eine
notwendige Folgeerscheinung zunehmender Rudimentation des Flugapparates.