
Nachtrag.
Nach Abschluß der Arbeit konnte ich erst die Untersuchungen von Ray m. P o i s s o n , Contribution
a l’étude des Hémiptères Aquatiques (Bull. Biol. France Belgique, LVIII, 1924, Fase. 1) und
eine kleine Arbeit von B r u e s (1908) auftreiben. Sie mögen beide hier zur Ergänzung noch besprochen
werden.
P o i s s o n (1924) äußert sich im 3. Hauptstück (p. 228 sq.) über die Coexistenz der Flugmuskeln
und Flügel. Wenn er auch m. E. das Problem nicht in allen Stücken richtig anfaßt und infolgedessen
zu unrichtigen Schlußfolgerungen kommt, scheint es mir doch von Wichtigkeit, seine Gedankengänge
und die ihnen zugrundeliegenden Tatsachen kurz mitzuteilen.
D i e F l u g f ä h i g k e i t e r f o r d e r t v o l l k o m m e n e n t w i c k e l t e F l ü g e l u n d
n o r m a l e F l u g m u s k u l a t u r ; d i e F l u g U n f ä h i g k e i t k a n n r e i n t h e o r e t i s c h
d u r c h A n o r m a l i t ä t e n t w e d e r d e r F l ü g e l o d e r d e r F l u g m u s k e l n h e r b e i -
g e f ü h r t w e r d e n und P o i s s o n glaubt für beide Fälle Belege anführen zu. können. Flugunfähigkeit
infolge der mehr-weniger rückgebildeten Flügel finde sich bei einer ganzen Anzahl von
Wasserwanzen; daneben kennt er Formen von Naucoris dmicoides L. und Nepa cinerea L. mit Flügeln
von normaler Länge, deren sie sich nicht mehr bedienen zu können scheinen (Formen, wie sie von mir
als Pterygota makroptera avolantia bezeichnet wurden).
P o i s s o n wirft die Frage auf, ob der Schwund der Flügel den der Muskulatur determiniere
oder umgekehrt oder ob beide parallel zueinander verschwinden. Auf Grund seiner Befunde stellt
er vier verschiedene Fälle einander gegenüber:
1. Flügel und Flugmuskeln vorhanden;
.2. Flügel vorhanden, aber keine Flugmuskeln;
3. keine Flügel vorhanden, aber Flugmuskeln;
4. Flügel und Flugmuskeln anormal.
ad 1. a) Flügel normal. Ganz allgemein gilt nach dem Verfasser: bei makropteren Wasserwanzen
ist der Flügel-Muskel-Komplex funktionsfähig. Nach der bereits erwähnten Angabe des V. tritt er
aber bei manchen langflügeligen Naucoris und Nepa nicht mehr in Funktion, was darauf hinweist,
daß a u c h b e i Wa n z e n d e r E n t f l ü g e l u n g s p r o z e ß wi e b e i K ä f e r n a u f d e m
S t a d i u m p h y s i o l o g i s c h e r F u n k t i o n s f ä h i g k e i t b e g i n n t . Ich vermisse hier
durchaus die Angabe des Verfassers, ob die von ihm untersuchten Stücke mature Jung- oder Altimagines
waren; es ist P o i s s o n scheinbar gar nicht der Gedanke gekommen, daß die funktionslose Muskulatur
im Verlauf des imaginalen Lebens der Wanzen abgebaut werden könnte. Zweifellos geschieht
dies auch bei den Wasserwanzen — wie bei den Käfern — und besteht deshalb der vermeintliche
Gegensatz zwischen dem ersten und dem zweiten Fall nicht.
b) Flügel mehr-weniger rückgebildet. In diesem Fall ist nach unserm Gewährsmann der Flügel-
Muskel-Komplex stets funktionsunfähig, aber unter 120 brachypteren Limnotrechus lacustris L. fand
er zwei Exemplare mit anscheinend funktionsfähiger Muskulatur.
ad 2. Fehlende Muskulatur stellte P o i s s o n fest bei makropteren, brachypteren und mikro-
pteren Stücken derselben und verschiedener Arten. So bei 3 makropteren Stücken von Limnotrechus
lacustris L. ; bei der meist apteren Hygrotrechus najas de Geer besaßen unter 5 makropteren 3 Stücke
völlige Flugmuskulatur. Darin liegt ein Beweismoment für meine Ansicht, daß die funktionslose bei
jungen Stücken vorhandene Flugmuskulatur während des Imaginallebens abgebaut wird.
Auffällig ist, daß bei brachypteren und mikropteren Exemplaren (von Gerris, Velia, Aepophilus,
Hydrometra) im allgemeinen die Flugmuskeln völlig fehlen sollen, was bei Coleopteren nicht der Fall
ist; hier fehlt höchstens bei mikropteren die Flugmuskulatur, bei eben ausgereiften brachypteren
niemals. Nehme ich wiederum an, Poisson haben bei diesen Feststellungen Altimagines Vorgelegen,
die als Jungimagines noch im Besitze entsprechender Flugmuskeln waren, dann stimmt alles mit
meinen Befunden an Käfern überein. Aus der bereits 1921 gewonnenen Gewißheit, daß aus der
Copula brachypterer L. lacustris im allgemeinen und in ganz bestimmter Proportion wiederum
brachyptere Nachkommen hervorgehen, hat P o i s s o n so erzeugte Larven untersucht und gefunden,
daß die die Flugmuskulatur erzeugenden Myoblasten nicht mehr oder nur kümmerlich vorhanden
sind und bereits vor dem Schlüpfen histolysiert werden. Bei brachypteren Individuen fand Verf. eine
kompensatorische Hypertrophie der Beinmuskulatur und den Raum der Flugmuskeln eingenommen
durch die Speicheldrüsen und bei maturen Weibchen durch die Genitaldrüsen; das letztere stimmt
mit meinen Befunden überein.
ad 3. Äußerst selten sei der Fall, daß trotz fehlender Flügel noch gut entwickelte quergestreifte
Flugmuskeln vorhanden sind. Bei 2 Limnotrechus thoracicus Schumm. mit nur winzigenFlügelschüppchen,
aber einem der makropteren Stücke entsprechenden Thorax fand er quergestreifte Muskeln; bei 5
apteren Stücken von Y elia currens F. anscheinend völlig normale Flugmuskeln (!). Bei den stark ent-
flügelten Caraben fand ich ebenfalls stets noch Flugmuskeln angelegt, aber nie in dieser hohen Entwicklung.
Ich sehe mich deshalb genötigt, P o i s s o n zuzugeben, daß Rückbildung der Flügel und
der Flugmuskulatur nicht immer völlig parallel gehen, aber im großen Ganzen ist das doch wie bei den
Käfern so auch bei den Wasserwanzen der Fall.
ad 4. In den Familien der Nepidae und Naucoridae entspricht dem mangelhaften Zustand der
Flügel der der Flugmuskeln. P o i s s o n h a t die Histogenese der einzelnen Muskeln verfolgt, wie sie
gehemmt wird, teilweise zum Stillstand kommt und der Abbau im Verlauf des imaginalen Lebens
fortgesetzt wird. Daß dieser Abbau sich auch bei den makropteren funktionslosen Flugmuskeln
zeigen muß, ist P o i s s o n entgangen. Er zieht (p. 242) aus den besprochenen Fällen die Schlußfolgerung:
der Verlust der Flugfähigkeit kann eintreten entweder durch rückschreitende Entwicklung
der Alae (processus Drosophüien de Cu é ' n o t et Me r c i e r ) oder der Muskeln (processus Cherso-
dromien, des mêmes auteurs, p. 246) oder der gleichzeitigen Atrophie beider Organe. Ich glaube nur
an die Möglichkeit des letzten Falles und halte die beiden anderen Möglichkeiten für eine Täuschung,
dadurch hervorgerufen, daß Verf. nicht verschieden alte Stücke einer und derselben Spezies untersuchte
und, wo er sie zufällig vor sich hatte, die abweichenden Befunde nicht richtig deutete.
Von größtem Interesse ist für uns das 4. Hauptstück bei P o i s s o n , wo er die Frage anschneidet,
was den Verlust des Flugvermögens bei den Wasserwanzen herbeiführe. Da diese Frage
bei allen Insektengruppen wiederkehrt und schon von vielen Forschern gestellt wurde, gibt Verf. zunächst
einen Überblick über die bisherigen Erklärungsversuche.
F a k t o r e n des ä u ß e r e n Mi l i eus , wie Temperatur, Feuchtigkeit, Licht, Nahrung usw.
E. d e B e r g e v i n (1909) machte sie für die Entflügelung unterirdisch lebender Insekten verantwortlich;
P i c a r d und L i c h t e n s t e i n (1918) schreiben bei ihrer Studie über die parasitische Hymen-
optere Sycogaster Lavagnei Pic. e t Lieh, innerhalb des Komplexes dieser Faktoren der Nahrung eine
hervorragende Rolle zu. W. R. T h o m s o n 1923 tu t das Gleiche bei der parasitischen Ichneumonide
Zoologien. Heft 76. 11