Hiermit verlasse ich P o i s s o n s Arbeit. Zusammenfassend kann ich sagen, daß seine wertvollen
Untersuchungen über die Entflügelung der Wasserwanzen sowie die von ihm besprochenen
Anschauungen verschiedener Autoren mich in keiner Weise in meiner Ansicht schwankend machen,
daß sich die Entflügelung in stetig fortschreitendem Maße vollzieht und durch Nichtgebrauch eingeleitet
wird. Auch die Arbeit von B r u e s 1908: Is Mutation a Factor in the Production of vestigial
Wings among Insects? (Journ. N. Y. Ent. Soe. XYI, March) kann mich nur darin bestärken.
Seit D a r w i n , sagt B r u e s (1908), nehmen die meisten Forscher sah, daß Entflügelung der
Insekten sich durch Naturauslese völlig erkläre; nur gelegentlich findet sich ein schwacher Zweifel
hieran, so bei C a s e y (Ann. N. Y. Acad. Sei., Vol. 6, p. 65) und er selbst zweifelt, ob bei Coleopteren
Kudimentation der Flügel allein durch Selektion erklärt werden kann.
Bei dem Genus Pasimaehus (Carabidae) sind nach seinen an 9 Arten angestellten Untersuchungen
die Alae weitgehend zurückgebildet und in den einzelnen Arten ziemlich konstant ; entweder stammen
sie nach B r u e s von einer annähernd ähnlich stummelförmig geflügelten Stammform ab, oder die
Entflügelung ist bei den einzelnen Arten selbständig so weit gediehen.
Von den 25 nordamerikanischen Arten der Gattung Cdlosoma konnte B r u e s 20 Arten untersuchen.
Calosoma scrutator ist wie der nahe verwandte europ. C. sycophanta ein flugfähiges Tagtier;
C. caüidum ein Dämmerungstier, das gelegentlich in Anzahl während der Sommermonate ans Licht
fliegt; „ I t shows a distinct correlation in its wings which are smaller and more delicate than those of
scrutator“. Eine Gruppe von 7 Calosoma-Aiten zeigt Anchylosis und derartige kleine Stummel der
Alae, daß sie ohne Lupe nicht mehr zu sehen sind; die anderen haben besser entwickelte Unterflügel.
Die Tenebrionidengattung Blapstinus Nordamerikas umfaßt 50 Arten mit stark variierenden
Alaerudimenten, worauf-als erster C a s e y 1890 hinwies;
Das häufige Auftreten flügelloser Käfer in heißen Gegenden veranlaßte B r u e s , nachzuforschen,
ob hierin vielleicht ein Kausalkonnex liege; er kam zu negativem Schluß; denn die Ausbreitungsgebiete
flügelloser und geflügelter Arten überschneiden sieh derart, daß beide in heißen und gemäßigten
Gebieten Vorkommen.
Selektion kann nach ihm bei den unter den Flügeln verborgenen Käferalae keine Bolle spielen,
also müssen noch andere schwer erkennbare Faktoren beteiligt sein außer der Selektion.
Bei Hymenopteren z. B. in der Gattung Megaspilm mit ihren makropteren, brachypteren und
apteren Arten, ebenso wo es sich um Saison- oder Geschlechtsdimorphismus handelt, nimmt er Mutation
als wichtigen Faktor an, weil die Zwischenstufen fehlen. (Fehlen sie wirklich?)
B r u e s drückt seine Ansicht (p. 50) dahin aus: That we have here another case not explainable
by natural selection alone, I strongly suspect, while the acceptance of mutation will give a t least
plausible explanation of the conditions as we find them.
Soweit B r u e s den Einfluß der Selektion als alleinigen Faktor einschränkt, decken sich seine
mit meinen Ansichten; gegen die Annahme der Mutation bleiben meine früheren Einwände in Kraft.
Hauptergebnisse.
1. Der Flug der Käfer wird durch ein Zusammenarbeiten indirekter und direkter Flugmuskeln
bewirkt, wobei die ersteren an Bedeutung überwiegen. Die Bücken-Bauchmuskeln verhalten sich
zur Kückenschale, die sie niederziehen und abflachen, wie die Sehne und Bogen einer Armbrust. Das
Niederziehen des Metatergum hat das Heben der Flügel, sein Emporschnellen einen kräftigen Schlag
der Flügel zur Folge, die in die Horizöntallage zurückkehren; die großen Pleuralmuskeln vollenden
den Elügelschlag bis zur maximalen Tiefenstellung durch Einwärtsziehen der Seitenplatten. Jeder
Flügel kann unabhängig vom anderen, in verschiedenem Tempo bewegt und durch die kleinen
Flexores verschieden gestellt werden, was die Steuerung des Fluges herbeiführt.
2. Der Mangel an Flugbereitschaft ist bei Käfern eine fast allgemeine Erscheinung und eine Folge
des Danaergeschenkes der Elytren. Das Erhaschen der fliegenden Beute im Fluge müssen sie Libellen
u. a. überlassen. Der Nahrungserwerb der Bäuber und Pflanzenfresser unter den Käfern findet vorwiegend
ohne Gebrauch der Flügel statt- Ihr Flug ist meist nur noch ein Hochzeitsflug oder ein Flug
zum Aufsuchen neuer Brutplätze.
3. Die Harmonie zwischen der Lebensweise und der Verbreitung der Flugunfähigkeit ist etwas
organisch Gewachsenes; das und der ununterbrochene Verlauf der Bückbildumg des Flugapparates
schließt die Annahme aus, daß der Entflügelungsprozeß durch sprunghaft eintretende Funktionsunfähigkeit
eingeleitet wird. Die ersten Spuren der Bückbildung finden sich stets auf der Stufe voller
Entwicklungshöhe der Flügel, der Flugmuskulatur und der zum Flugapparat gehörenden Panzerstücke.
4. Vollflügeligkeit und Flugfähigkeit sind deshalb keine vertauschbaren, gleichwertigen Begriffe.
Es gibt Pterygota makroptera volantia und avolantia; letztere sind oder werden avolatilia, flug-
ui?Pähig, da bei ihnen der Eückbildungsprozeß einsetzen wird. Ihnen am nächsten stehen jene makroptera
volantia per vitam volatilia, die nicht wie manche Cicindelen tagaus, tagein fliegen, sondern
äußerst selten und nur zu bestimmter Zeit von ihrer Flugfähigkeit G e b r aÄ machen, wie etwa Hylo-
Uus abietis. Eine besondere Gruppe bilden die makroptera ad tempus volatilia, die nach Abwerfen
der Flügel zur seßhaften Lebensweise übergehen (Schmarotzer, Ameisenweibchen).
5. Die Vorbedingung zum Abbau des Flugapparates ist die Aufgabe des Fluges in einem oder
in beiden Geschlechtern infolge veränderter Lebensweise. Die Flügel haben dadurch ihre Bedeutung
im Kampf ums Dasein verloren, entrücken so dem Machtbereich der Selektion und werden, trotz anfänglich
noch vorhandener physiologischer Funktionsfähigkeit, die erst bei späteren Generationen
ontogenetiseh nicht mehr erreicht wird, zu funktionsunfähigen, reduzierten Organen.
6. Äußere Faktoren haben wohl nur ausnahmsweise Aufgabe des Fluges und Umstellung der
Lebensweise direkt bewirkt (vergl. domestizierte Vögel). Die Ausrottung fliegender Insekten durch
stürmisches Milieu wurde vielfach überschätzt; sie schafft keine entflügelten Insekten, flugunfähige
Insel-, Gebirgs- und Höhlenkäfer haben flugunfähige nächste und nähere Verwandte mit annähernd
gleicher Lebensweise auf-dem Festland, im Flachland und im Freiland.
7. Das Aufgeben des Fluges findet nicht bei allen Stücken einer Art gleichzeitig sta tt, was zur
Artspaltung oder zur selektiven Ausrottung der noch fliegenden Stücke durch die bisherigen Feinde
führen kann, denen die mehr verborgenen Individuen entgehen.