
Hiermit scheinen T i t s c h a c k s Befunde bei der Kleidermotte (1922) im Widerspruch zu
stehen. In seiner prachtvollen, monographischen Studie legt er sich die Frage vor: warum man so
selten fliegende Weibchen von Tineola biselliella Hum. antreffe. Wirft man sie in die Höhe, so gehen
sie nur im Gleitfluge nieder; „aus eigenem Antriebe“ scheinen sie sehr selten zu fliegen. Er glaubt,
daß die Ausbildung der Flügelfläche hinter der Ausbildung größeren Lebendgewichtes zurückgeblieben
und dieser Mangel nicht durch eine leistungsfähigere Flugmuskulatur wettgemacht sei. Er berechnete,
wieviel Quadratmillimeter Flügelfläche auf ein Milligramm Lebendgewicht kommt und fand bei gleich
großen Tieren: die Flugfläche der Männchen ist 60,4—160% größer als die der Weibchen. T i t s
c h a c k kommt auf Grund dieser Messungen und seiner Beobachtungen zu folgenden Schlußfolgerungen
: Je schwerer das Körpergewicht, um so anstrengender der Flug, und deshalb unterbleibt
er bei graviden Weibchen. Sind diese älter und durch Eiablage erleichtert, so unternehmen sie größere
Flüge. Weibliche Hungerformen mit ihrem geringeren Gewicht und der kleinen Eierzahl sind flugfähiger
und sichern das Auf suchen neuer Nährböden. Diese Schlußfolgerungen T i t s c h a c k s haben
etwas Bestechendes, um so mehr, als sie auf Grund sorgfältiger Messungen über die Verhältniszahlen
gefunden wurden. Aber er macht zwei stillschweigende Voraussetzungen, die nicht ohne weiteres
anzunehmen sind.
1. Die Vergrößerung der Flugfläche soll hinter der Vermehrung des Lebendgewichtes zurückgeblieben
sein. Das ist aber nie der Fall, wo es sich um progressive Größenzunahme handelt; man vergleiche
nur die Lucaniden und Dynastiden. K o l b e (1894), der die in Afrika gefundenen Arten der
Kuteliden-Gattung Popillia bearbeitete, kommt (S. 213) zu der gleichen Ansicht, daß progressive
Ausbildung der einzelnen Organe mit der Vergrößerung des Körpervolumens gleichen Schritt hält.
2. T i t s c h a c k setzt stillschweigend voraus, daß vereinzelt fliegende Mottenweibchen entweder
Kümmerformen oder abgelaichte Stücke sind, also die graviden Weibchen nur vorübergehend durch
ihr Gewicht am Fluge verhindert sind. Dieser Annahme haftet der Mangel an, daß die Flugmuskulatur
nicht untersucht wurde. Wie ich hörte, hat T i t s c h a c k das inzwischen nachgeholt und gefunden,
daß die Flugmuskulatur der „flugunlustigen“ Weibchen histolysiert und zur Eiproduktion verwandt
wird. Damit bekommt aber die Sache ein ganz anderes Gesicht. Wir haben es dann, wie bei Rhizo-
trogus aestivus, mit zwei Formen von Weibchen zu tun: vereinzelt treten noch flugfähige Weibchen
auf und das brauchen durchaus keine Kümmerformen zu sein, die große Masse der Weibchen dagegen
ist bereits flugunfähig, und die so auffällige Disproportion zwischen Lebendgewicht und Flugfläche ist
als Brachypterismus zu deuten und nicht als ein Unterliegen im Kampfe zweier Tendenzen.
Ebensowenig kann die Tendenz zu stärkerer Panzerung der Vorderflügel und des gesamten
Ektoskelettes in langsamer, aber fortschreitender Weise' die Baustoffe des Flugapparates an sich gerissen
und so die Rückbildung der Flügel herbeigeführt haben. Mit der Tendenz zur Umbildung der
ursprünglich zum Fluge dienenden Vorderflügel ging die Tendenz zum Umbau, zur Verstärkung und
Vergrößerung des Metathorax und der Alae Hand in Hand. Es läßt sich wohl in keinem einzigen
Falle auch nur mit einiger Wahrscheinlichkeit sagen, daß diese korrelativen Tendenzen sich gestört
und die erstere über die zweite gesiegt hätte. Neben wenig stark gepanzerten Malacodermata, die
zudem meist minder gute Flieger sind, treffen wir sehr hart gepanzerte Lucaniden, Dynastiden, Ceram-
byciden, Tenebrioniden, Curculioniden, die gute und z. T. geradezu vorzügliche Flieger genannt
werden müssen. Man braucht nur mal einen Blick in eine Spezialsammlung der genannten Gruppen
zu werfen, dann wird man ohne weiteres die Vermutung, zwischen den widerstreitenden Tendenzen
der Panzerung und der Entwicklung eines entsprechenden Flugapparates könnte letztere unterlegen
sein, fallen lassen. Die Riesen unter den Käfern, die Dynastiden, sind im männlichen Geschlechte den
Weibchen nicht nur an Körpergröße, sondern vor allem durch die riesig entwickelten Halsschild- und
Kopfhörner überlegen, und doch werden sie ausnahmslos von den Reisenden am Licht gefangen, die
Weibchen dagegen, die durchaus normal gepanzert und in keiner Weise physogaster sind, werden nur
von einigen Arten und auch dann nur in vereinzelten Stücken schwärmend gefunden. In der Gattung
Chrysomela sahen wir, wie. dem Grade der Entflügelung entsprechend eine stärkere Ausbildung des
Chitinskelettes — als Schutz für das langsame Tier — ausgebildet wird, bei vielen exotischen Curculioniden
und den im glühenden Dünensande Deutsch-Südwestafrikas lebenden Tenebrioniden nimmt
gleichfalls die Panzerung enorm zu. Bei letzteren ist zum Schutz gegen die Verdunstung die Kehl-
platte zu einem Verschluß des Mundes vergrößert und außer den Fühlern und Beinen überhaupt nichts
mehr beweglich (G e b i e n 1920). Aber das alles sind sekundäre Erscheinungen, denn am gleichen
Ort finden sich alle Grade der Panzerung bis hinab zu denen, die an Ausbildung des Flugapparates
und des Chitinskelettes sich von den flugfähigen, baumliebenden Tenebrioniden noch nicht unterscheiden.
Auch diese Annahmen können uns das Problem der Rückbüdung nicht erklären. Sprunghafte
Sports sind es nicht. Das Nebeneinander aller Stufen der Kurzflügeligkeit bis zum völligen Schwund
der Alae innerhalb der Gattung Chrysomela, die evident eine stammesgeschichtliche Einheit bildet,
lieferte den Gegenbeweis und läßt uns der Annahme von L a m a r c k , D a r w i n , W e i s m a n n ,
Wo l f f , R o u x und J i c k e 1 i zustimmen, daß es sich bei diesen Rückbildungen um ein allmähliches
Schwinden handelt. Die Selektion versagt bei der Erklärung des Rudimen tationsprozesses,
wie dies schon D a r w i n klar erkannte; J i e k e 1 i s Ansicht ist ebenfalls mit den Tatsachen im Widerspruch.
Wie erklärt sich also der Prozeß der Rückbildung? Bislang haben wir noch keine Antwort
auf diese Frage erhalten. W e i s m a n n s Annahme, die von der Selektion nicht mehr überwachte
Mischung gut oder schlecht geflügelter Höhlenkäfer führe zwangsmäßig zur Verschlechterung und
zum'Schwund der Flugorgane, ist bereits von Wo l f f schlagend widerlegt. R o u x ’ Theorie der
funktionellen Reizwirkung, des Kampfes der Teile untereinander, der Inaktivitätsatrophie kann uns
auch nicht helfen. Er betont ja selber, daß seine Theorie erst dort einsetzt, wo das embryonale Leben
aufhört. Er kann uns wohl verständlich machen, warum die Flugmuskulatur der maturen Chryso-
melen durch Inaktivitätsatrophie und Kampf um den Raum abgebaut wird, aber warum sie bei den
makropteren Arten dieser Gattung mehr-weniger vollentwickelt wird, bei den brachypteren und
mikropteren entsprechend weniger, darauf gibt er uns keine Antwort.
Alle angeführten Autoren erkennen ganz klar den Parallelismus, der zwischen dem Aufgeben des
Fluges und dem Beginn der Rückbüdung besteht. Sie scheinen aber darin eine direkte Ursache der
allmählichen Rückbildung zu suchen. Wie soll das möglich sein? Was hat der Nichtgebrauch eines
Organs mit der keimplasmatischen Anlage desselben zu tun? Er ist ein rein negativer Faktor, der als
solcher auf die Entfaltung oder Nichtentfaltung, auf die Erhaltung oder Ausmerzung der Anlage
keinen positiven Einfluß ausüben kann. M. E. besteht zwischen Nichtgebrauch und Rudimentation
nur ein indirekter kausaler Konnex. Mit dem Gebrauch der Flügel muß irgend ein Chemismus verbunden
sein, sagen wir eine Hormonenproduktion, die Hormonen mit der Keimzelle vererbt werden
und bei der folgenden Generation für erneute Aktivierung der Flügelanlage sorgen. Mit dem Aufgeben
des Fluges hört die Hormonenproduktion auf. Die Rudimentationsreihe vom Makropterismus zum
Apterismus erscheint als Folge stetig wachsender Inaktivierung (oder Hemmung) der unveränderten
Flügelanlage. Damit ist das Problem der Rückbüdung auf das aügemeine Problem der Determination