Unfähigkeit eingetreten ist, muß es hierfür wiederum ein einheitliches Erklärungsprinzip geben, das
noch niemand entdeckt hat. Wie kommt es ferner zu einer Serie bestimmt gerichteter Mutationen, die
vom flugunfähigen Makropterismus zum yollendeten Apterismus führt? Und warum vollziehen sich
die sprunghaften keimplasmatischen Abänderungen in solch kleinen Schritten, daß sie einen allmählichen
Schwund vortäuschen, wie dies in der Gattung Chrysomela der Fall ist, die doch evident
eine phylogenetische Einheit dars teilt und deren brachyptere Arten alle Stufen zeigen, die von den
apteren bereits durchlaufen sind. Die Auffassung, die Rückbildung beruhe auf Mutation, führt demnach
zu großen Schwierigkeiten, tu t allen Beobachtungstatsachen Gewalt an und befriedigt in keiner
Weise. Ihr gegenüber gibt es nur eine einzige, eindeutige, alle Fälle der Entflügelung umfassende Erklärung
: N i c h t d u r c h m u t a t i v e n D e f e k t , s o n d e r n d u r c h N i c h t g e b r a u c h
i n f o l g e v e r ä n d e r t e r L e b e n s w e i s e we r d e n die F l ü g e l zu f u n k t i o n s l o s e n
O r g a n e n u n d a l s s o l c h e v e r f a l l e n s i e d e r R ü c k b i l d u n g .
Die Rückbildungserscheinungen haben von den Tagen L a m a r c k s und D a r w i n s bis auf
unsere Tage eine hervorragende Rolle bei Begründung der Abstammungslehre gespielt. Einige der
Haupterklärungsversuche seien darum im folgenden kurz und so objektiv als möglich wiedergegeben,
um zu ihnen Stellung zu nehmen.
1. Nach L a m a r c k sollen Organe d u r c h N i c h t g e b r a u c h allmählich schwächer und
schlechter, ihre Fähigkeiten fortschreitend vermindert werden und die Rückbildung schließlich mit
vollständigem Schwinden enden.
2. Nach D a r w i n kommt ein Organ zur Rückbildung, wenn es im Kampf ums Dasein n i c h t
m e h r g e b r a u c h t wird. Wie aber ein Organ, das einmal funktionslos geworden und damit dem
Machtbereich der Selektion entzogen ist, rückgebildet wird, dafür, sagt D a r w i n (Entstehung der
Arten), „ist noch irgend eine weitere Erklärung notwendig, die ich nicht geben kann“.
In seinem ganzen Werke über die Entstehung der Arten hat D a r w i n das Prinzip der direkten
umgestaltenden Wirkung von Gebrauch und Nichtgebrauch zwar anerkannt, aber den größten Anteil
an der Verkleinerung unnötiger und der Vergrößerung nützlicher Organe der Auslese aus freien
Variationen zugeschrieben. „Das unglückliche Beispiel der Verkleinerung der Kalkschale, welche allerdings
nicht durch nachträgliche Atrophie hat entstehen können, scheint ihm hierin nachteilig geworden
zu sein“ ( R o u x 1881, S. 8). In seinem späteren, viel weniger gelesenen und deshalb nicht genügend
beachteten Werke „Uber das Variieren der Tiere und Pflanzen“ (übers, v. C a r u s 1873, Bd. II, S. 400)
räumt D a r w i n dem Prinzip des Gebrauchs und Nichtgebrauchs einen viel größeren Einfluß ein:
„. . . Andererseits schwächt und verringert fortgesetzter Nichtgebrauch alle Teile der Organisation.
Tiere, welche während vieler Generationen nur wenig Bewegung haben, haben in der Größe
reduzierte Lungen, und infolge hiervon wird der knöcherne Brustkorb und die ganze Form des Körpers
modifiziert. Bei unseren seit alters her domestizierten Vögeln sind die Flügel wenig gebraucht und
daher bedeutend reduziert worden. Mit ihrer Abnahme ist der Brustbeinkamm, sind die Schulterblätter,
Coracoide und Schlüsselbeine sämtlich reduziert worden (a. a. 0 . S. 400).“ „Bei domestizierten Tieren
ist . die Reduktion infolge Nichtgebrauches niemals soweit geführt worden, daß nur ein bloßes Rudiment
übrig bleibt, aber wir haben guten Grund zur Annahme, daß dies im Naturzustände oft einge-
treten ist. Die Ursache dieser Verschiedenheit liegt wahrscheinlich darin, daß bei domestizierten
Tieren nicht bloß keine hinreichende Zeit für eine so tiefe Veränderung geboten ist, sondern daß auch,
weil sie keinem heftigen Kampf üms Dasein ausgesetzt wurden, das Prinzip der Ökonomie der Organisation
nicht in Tätigkeit tra t (a. a. O. S. 401).“ R o u x (1881, S. .10—12), dem diese Zitate entnommen
sind, sa^t mit Recht, daß D a r w i n hiermit der Wirkung der funktioneilen Anpassung einen erheblichen
Einfluß an der Entstehung der Arten einräume, „und da diese Veränderungen durch funktionelle
Anpassungen direkt zweckmäßig sind, so anerkennt er damit ein Prinzip, welches auf viel kürzerem
Wege als die Zuchtwahl ganz direkt das Zweckmäßige hervorbringt, somit also letzterer die stärkste
Konkurrenz macht. . .“ Ich möchte besonders darauf hinweisen, dass es sich um zwei ganz verschiedene
Prinzipien handelt. Die funktionelle Anpassung ist ein formendes, die Auslese nur ein
ausrottendes Prinzip; indem es hilft, die heute noch fliegenden Rhizotrogus aestivus-Weibchen auszumerzen,
bleiben die ohne Selektion flugunfähig gewordenen Weibchen allein übrig.
3. W e i s m a n n sagt (zitiert nach Wo 1 f f , 1890): „Wenn wirklich die Zweckmäßigkeit der
lebenden Wesen in allen ihren Teilen auf dem Vorgänge der Naturzüchtung beruht, dann muß diese
Zweckmäßigkeit auch durch dasselbe Mittel erhalten werden, durch welches sie zustande gekommen
ist, und sie muß wieder verloren gehen, sobald dieses Mittel, die Naturzüchtung, wieder in Wegfall
kommt.“ Beim Übergang zum Höhlenleben ist es für das Tier einerlei, ob es ein Auge besitzt oder
nicht; mithin wirkt die Zuchtwahl nicht mehr auf das Auge ein; bessere oder schlechtere Augen bilden
keine Chance im Kampf ums Dasein mehr; beide haben die gleiche Wahrscheinlichkeit, erhalten zu
werden; es mischen sich die schlechten mit den guten, „und das Resultat kann nur eine allgemeine
Verschlechterung der Augen sein“.
W e i s m a n n nimmt ferner an, daß die Rückbildung ihren Weg ohne Vererbung gehen könne,
denn bei den Neutra der Ameisenstaaten sind die Flügel rückgebildet, die Facetten in Rückbildung
begriffen (Formica 'pratensis Geer $ 830, $ 600; Solenopsis fugax Ltr. $ 200, 5 6—9 Facetten; „die
Arbeiterinnen sind unfruchtbar und vererben nichts“ .
4. Wo l f f (1890) wendet sich gegen die vorstehende Ansicht We i s m a n n s . „Das Auge
müßte also nach Wegfall der Selektion genau auf demjenigen Ausbildungsgrade beharren, den es gerade
h a t“. „Gut“ und „Schlecht“ sind sich eben völlig gleichwertig. Daß das Auge besser wird, ist daher
ebenso wahrscheinlich, als daß es schlechter wird, deshalb ist es das Wahrscheinlichste, daß es bleiben
wird, wie es ist. „Daß zur Erklärung der Rückbildungen die Selektionstheorie nicht genügt, scheint
D a r w i n selbst eingesehen zu haben; denn zur Deutung dieser Vorgänge nimmt er nur in einzelnen
Fällen seine Theorie in Anspruch (z. B. bei den Augen des Maulwurfs), in den meisten Fällen adoptiert
er hier die L a m a r c k sehe Erklärung.“ Der Lamarckismus kann aber nach W o 1 f f auch nicht zu
Hilfe gerufen werden. „Daß dies unzulässig ist, hat W e i s m a n n , wie rückhaltslos anerkannt
werden muß, auf das überzeugendste dargetan, indem er auf die Rückbildung solcher Gebilde hinwies,
deren Benutzung nur eine passive ist.“ Er sieht auch nicht ein, warum sich D a r w i n gegen die folgerichtige
Durchführung seiner Selektion sträubte, „denn irgend ein Vorteil ließe sich ja immer herausklauben“
. Aber jeder Versuch einer selektionstheoretischen Erklärung der Rückbildungserscheinungen
scheitert nach W o 1 f f am „biogenetischen Grundgesetz“ , wonach rückgebildete Organe im Embryonaloder
Jungleben sich noch anlegen und erst dann zurückbilden, so daß auch hierin die ontogenetische
Entwicklung die phylogenetische wiederholt. Reichlich dunkel ist die Darlegung des Gegensatzes
zwischen der Selektion und dem Grundgesetz. Ich verstehe ihn so: Das Grundgesetz ist nur dann verständlich,
wenn die rudimentierten Organe auf dem direkten Wege geringerer Entwicklung rudimentär
wurden; tagtäglich seien die Fälle zu beobachten, wo Organe sich einfach etwas schwächer anlegen.
Möglich, aber sicher viel seltener sei eine durch Variierung (Mutation!?) bedingte minimale Rückbildung,
d. h. daß ein Organ sich bildete und im Lauf des individuellen Lebens sich wieder in minimaler
Weise zurückbildete. Dieser indirekte Weg gehäufter Variierung müsse vom Selektionstheoretiker