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Don (iorilla halten wir für einen eigenartig ausgebildeten Seitenzweig, welcher
ebenfalls auf eine Schimpanse-artige Wurzel zurückgeht, während wir Orang und Hjdobates
fin- ältere Formen als den Scliimpanse ansehen.
Nach dieser Digrcssion wollen wir nun die Reihe von Eigenschaften namhaft
machen, in welchen der Wedda eine grossere Annäherung an eine Schimpanse-artige Form
zeigt als der Europäer. Es sind hauptsächlich folgende: Körpergrösse, Wadeinnangel,
Kleiidieit des Schädels, steiler Aufbau seiner Seiten wände, schwache Auswülbung des
Schädeldaches, stärkere Entwicklung der vor der Ohrebene gelegeneu Schädelpartie, im
Yerhältniss zu deni liinter derselben liegenden Theile, schwächere Ausfüllung der Schläfeuvegiiui.
mehr der Horizontalen genäherte Lage des Hinterhauptsloclies, weniger stark nach
aufwärts streliende Richtung der Pars basilaris O.ssis occipitis, oligencephale Caparität dei'
Schädelcapscl, geringe Breite des Stirnbeins, Länge der Pars uasalis des Stirnbeius uud
stärkere Betheiligung desselben am Aufliau der medialen Augenhöhlenwand, fläufigkeit des
Processus frontalis der Schläfenschuppe, schwache Ausbildung des Tuberculum articulare
der Gelenkgrube für den Unterkiefer. Prodentie, schwache Entwicklung der Lamina papyracea
des Siebbeines, geriuge Interorhitalbreite, Niedrigkeit der Choaneu, geringe Erhebung
des Nasenrückens, grössere Tiefe des Brustkorbes (?), Concavität der knöchernen Leudenwirbelsäule,
grössere Höhe und SchmaLheit des Beckens, schiefere Piichtung der Spina
Scapulae, grössere Länge der Arme, stärkere Entwicklung des Vorderarms, im Verhältniss
zum Oberarm, geringere Torsion des Oberarmes, grössere Lücke zwischen Ulna uud Pi.adius,
stärkere Krüunuuug der Phalangen der Finger, Verkürzung und Verschmälerung der Fusswurzel,
im Verhältniss zur Länge des Mittelfusses, grössere Flachheit des Fussskelettes, Idaffendere Lücke
zwischen Metatarsus I und 11, stärkere Opposition des ersten Metatarsus und der vier andern.
Dieser Pieihe von anatomisch niedrigen Merkmalen, welche durch weitere Untersuchungen,
namentlich am Rumpf- und Extremitätenskelett, zweifellos noch bedeutend
vermehrt werden könnte, stellt als auffallendste Eigenschaft, in welcher sich der Wedda
weiter vom Schimpanse entfernt als der Europäer, die grössere relative Länge seiner Uuterextremitäteu
gegenüber, eine Eigenschaft, die, wie wir sahen, auch den anderen niederen
Varietäten zulvommt. Wir müssen wohl annehmen, dass der Europäer sich wieder secundäi'
durch Verküi'zung seiner Beine den Anthropoiden-Proportionen angenähert habe (man
vergleiche über diesen Punkt pag. 290).
An die Existenz solcher zurücklaufender Entwicklungswelleu wird man sich überhaupt
gewöhnen müssen, i.md wir haben in den frühereu Abschnitten genugsam auf Beispiele
hingewiesen, wo höhere Varietäten einzelne niedrige Merkmale selbst in noch
stärkerem Maasse ausgeprägt zeigten als andere, nach Capacität und einei- Fülle wichtigei-
Eigeuschaften tiefer stehende Stämme. Wir verweisen zum Beispiel anf das über die
I'rognathie (pag. 242 ff.) Gesagte, ferner auf die Bemerkungen über häufiges Vorkommen
vou Stirnfortsätzen bei höheren Formen (pag. 234 und 235), und auf die Angaben übei'
das getheilte Wangen- und das Inca-Bein (pag. 348).
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Nur aus einer grossen Zahl zusammenstimmender Eigenschaften lässt sich die
Hölie oder Tiefe einer Varietät erkennen, und eben die grosse und darum den Zufall ausschliessende
Reihe solcher Merkmale ist es, welche uns lehrt, dass die Weddas, gegenüber
dem Europäer, eine Annäheruug an. eine anthropoide Stammform zeigen. Viele dieser
Eigenscliaften der Weddas sind, wie erwähnt, auch bei den anderen Primärvarietäten nacligewiesen
worden; auf einige wurde dagegen bisher nicht geachtet, so dass ihre weitere
Verbreitung zwar wahrscheinlich, aber noch nicht sicher ist. Die Zahl der übereinstimmenden,
niederen Merkmale ist aber schon so gross, dass unserer Ansicht nach die tiefe
Stellung der Primärvarietäten nicht l^eanstandet werden kann. Dabei ist selbstverständlich,
aber wir fügen es doch bei, um nicht missverstanden zu werden, dass auch die
Primärvarietäten nocli vollkommene Menschen, das heisst Varietäten des Genus Homo
sind; sie zeigen aber unserer Ansicht nach den Weg, welchen die Entstehung des MenschengescJilechtes
genommen liat.
Bei den cymotrichen, ulotrichen und den von uns als wahrscheinlich postulierten
lissotrichen Primärvarietäten finden wir bereits die typisch verschiedene Art und Weise der
Behaarung repräsentiert. Wir müssen nun annehmen, dass die drei Formen auf eine
Wurzel zurückgellen, welche gewissermaassen einen neutralen Zustand der Behaarung aufwies.
Wir stellen uns diese um eine Stufe unter den heute lebenden Primärvarietäten
stellende Form immer noch als eine menschliche, aber wieder um einen Schritt den Anthropoiden
mehr angenäherte vor. Die Annahme einer solchen Form mit neutraler Behaarung
hat um so weniger Schwierigkeiten, als wir ja zum Beispiel bei den cymotrichen
Weddas gelegentlich Individuen, welche eine ziemlich starke Kräuselung des Haares anfwieseu
(siehe z. B. Taf. XIH, Fig. 21 und XVI, Fig. 27) gefunden haben.
Es ist kaum Hoffnung vorhanden, dass diese menschliche Urform oder gar noch
weitere, tiefere Bindeglieder heute noch unter den Lebeuden weilen; ihre Auffindung wird
vielmehr der Paläontologie vorbehalten bleiben müssen. Immerhin lässt sich wenigstens
annäliernd angeben, in welchen Gebieten der Erde der Geologe darnach zu forschen hätte.
Ausgeschlossen scheint uns zunächst als Entstehungsort des Menschen Amerika zu sein, weil
wir nicht annehmen dürfen, dass niedere Formen, wie sie Asien uud Afrika bieten, ihren
Weg durch die nördlichen Polargebiete oder gar durch den grossen Oceaii könnten genoinineu
haben. Auch fehlen, so viel uns bekannt, Anthropoiden, welche als Stammformen
lietrachtet werden könnten, in Amerika sowohl lebend, als fossil. In demselben Falle ist
Australien.
Ausgeschlossen sind ferner ganz Europa und das nördliche Asien, weil die Klimaverhältnisse
es mit sich bringen, dass hier nur höhere Formen den Kampf gegen die Unbilden
der Witterung ausznhalten vermochten, und in der That zeigen auch die ältesten
in Europa gefundenen menschlichen Schädel eine ungemein grosse Capacität, wenn auch
am Skelett einige wahrscheinlich ältere Merkmale, wie Platyknemie und Durchbohrung
der Olekranongrube, auftreten.