
560 DIE WIRKSAMKEIT HUMBOLDT'S
characteristische Form nicht verändert zu haben scheinen, und doch
zugleich die Möglichkeit einräumt ^ dass ihre specifischen Verschiedenheiten
„als Wirkungen der Ausartung und als Abweichungen von gewissen
Urformen" betrachtet werden können. Die Reihenfolge der
vegetabilischen Schöpfungen in der Vorwelt bezieht er bereits auf die
Abkühlung der Erdkugel \ und, als hätte er die Schwierigkeiten vorausgesehen,
die erst jetzt dieser Lehre aus den Untersuchungen Ileer's
über die Vegetationsreste der arktischen Zone erwachsen sind, fügt er
bei diesem Anlass den Zweifel hinzu, ob nicht einst eine vermehrte
Intensität der Sonnenstrahlen über die Polarländer höhere Wärme verbreitet
habe , und ob solche Veränderungen , durch welche die Trgpen'
veröden müssten und Lappland den Äquinoctialpflanzen bewohnbar
würde, entweder als periodisch oder als vorübergehende Perturbationen
unseres Planetarsystems aufzufassen wären. In solchen Aussprüchen
des damals noch jugendlichen Mannes erkennt man seine Gabe, entlegene
Probleme sicher aufzufassen und dadurch auf den Gang der
Forschungen bis zu einer fernen Zukunft anregend einzuwirken. Und
bestehen naturwissenschaftliche Leistungen etwa nur darin, dass die
einzelnen Fragen erledigt werden ? Ist nicht der des gleichen Ruhmes
würdig, der sie aufzuwerfen versteht und die Arbeit der Jahrhunderte
auf bestimmte und fruchtbare Bahnen lenkt?
Die ursprünghche Heimat der heutigen Pflanzenarten, die durch
ihre Wanderungen verdunkelt wird, bleibt, wie jede geologische Thatsache,
dadurch zweifelhaft, dass der spätere Zustand, den wir vor Augen
haben, auf verschiedenen Wegen und durch verschiedene Mittel aus
einem früheren hervorgehen konnte. Aber ein grösserer Spielraum
als über die Entstehungsweise der Organismen ist über ihren ursprünglichen
Wohnort der Beobachtung analoger Vorgänge in der Gegenwart
eingeräumt. Hier sieht man, wie Humboldt seine Anschauungen über
den Haushalt der Natur zu verknüpfen und für die Bearbeitung allgemeinerer
Aufgaben zu verwerthen wusste. Die Hypothese der Schöpfungscentren
berührend, wonach alle vegetabilischen Keime von bestimmten
Gegenden ausgegangen sind 2. überbhckt er die Kräfte, durch
welche das anfängliche Wohngebiet sich erweitern konnte. Er unterscheidet
zwischen den Hülfsmitteln, die in der Organisation liegen, und
denen, die von aussen auf sie einwirken. Während das Thier erst, wenn
es herangewachsen, seine Heimat verlasse, stellen die Pflanzen ihre
Reisen im Zustande des Samenkorns an, welches nach Maassgabe
seines Baues geschickt ist, durch die Luft oder im Wasser beweet zu
^ Ideen, S. 15. 2 Ebend. S. 10, 16.
IM GEBIETE DER PFLANZENGEOGRAPHIE UND BOTANIK. 561
werden. Die Strömungen der Atmosphäre und des Meeres, die Vögel
in ihrem Fhige und vor allem den Menschen betrachtet er als die Träger
der wandernden Pflanzenkeime. In diesem Kampfe um den Erdboden,
worin sie sich .entfalten, ist nur dem Grade nach ein Unterschied
zwischen der natürlichen Ordnung der Dinge und den Wirkungen der
Kultur 1, welche „die Herrschaft fremder, eingewanderter Pflanzen über
die einheimischen begründet und diese nach und nach auf einen engen
Raum zusammendrängt". Nur unter den Tropen sei die menschliche
Kraft zu schwach, um eine Vegetation zu besiegen, welche nichts unbedeckt
lasse als den Ocean und die Flüsse. Diese Auffassungen lassen
sich auf das Problem der Schöpfungscentren anwenden , sie werden
durch einige Thatsachen unterstützt, die aus Hwnboldfs eigenen Beobachtungen
geschöpft sind. Den kryptogamischen Gewächsen 2, deren
Keime am kleinsten und däher am beweglichsten sind, kommen die
weitesten Wohngebiete zu: „viele Flechten derselben Art finden sich
unter allen Breitengraden". Von Phanerogamen dagegen meinte
boldt in Südamerika nie ein einziges europäisches Gewächs wildwachsend
angetrofifen zu haben, welches dem neuen Continent vor seiner Entdeckung
als zugehörig gelten konnte. Dies waren die ersten Grundlagen
des Satzes, dass die Absonderung der Wohnbezirke von der
Wanderungsfähigkeit des Samens bedingt sei und nicht blos von den
physischen Einflüssen abhänge, denen die Pflanzen in ihrer Entwicklung
unterworfen sind. Aber auch die Schwierigkeiten, die der Lehre
von den Schöpfungscentren entgegenstehen, entgingen Humboldt nicht.
Er musste später 3 gewisse Gräser und Cyperaceen als Südamerika und
der alten Welt gemeinsam anerkennen, und er fand auf der Silla von
Caracas die alpine Vegetation mit der auf den hohen Cordilleren von
Bogota zum Theil aus gleichen Arten zusammengesetzt. Es blieb ihm'
dunkel, wie die Wanderung über den atlantischen Ocean vor sich gehen
könne, und wie dieselben Ericeen 'z. B. Gauitheria odorata, Gaylussacia
buxifolia) zwei Hochgebirge zugleich bewohnen , die siebzig Stunden
weit durch niedrige Höhenzüge getrennt sind, auf denen sie nirgends
eine so kühle Temperatur finden , dass sie daselbst gedeihen könnten.
An beiden Abhängen der Anden sah er Pflanzen wiederkehren, welche
die zwischenliegenden Höhen doch nicht zu überschreiten vermögen.
Der entgegengesetzten Meinung. welche , statt die getrennten Wohngebiete
gleicher Pflanzenarten aus Wanderungen abzuleiten, die Entstehung
derselben als eine Folge übereinstimmender Temperaturbedingungen
auffasst, welche sie an verschiedenen Orten gleichmässig
' Ideen, S. 21. 2 Ebene!., S. 11, 13.
A. G r i s e b a c h , Gesammelte Schriften.
3 Relation historique, I, 601
36
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