Stoff bieten, den individuellen Ideengang zu durchforschen, aber
diese wissenschaftlich gleich bedeutungsvollen Studien bleiben
der Gegenstand eines physikalischen Experimentes, während in
jenen die Musikaccorde erklingen, die die Völker und Nationen
zu weltgeschichtlichen Thaten begeisterten, oder die schon in
rohen Stämmen die elegischen Klagen um das Leid des Erdenlebens
aushauchten. Die Ethnologie hat die psychologischen
Grundideen*) besonders in der Sphäre mythologischer, kosmo-
genischer, traditionell-geschichtlicher, rechtlicher Anschauungen
zu suchen, da sie bei ihnen am sichersten geht, ein durch ununterbrochen
gegenseitiges Zusammenwirken rectificirtes Ge-
sammtresultat auf der ganzen Breite des Gesellschaftskreises
zu gewinnen. Wenn ein Volk in eine klar und fest vorgezeichnete
Geschichtslaufbahn eingetreten ist, wird diese unmittelbare
Garantie undeutlicher und weniger sicher. Dann sind es hervorragende
Talente, die durch den elastischen Schwung des
Geistes weit Uber das durchschnittliche Niveau ihrer Zeit hinaustreten
und den Keim zu Umgestaltungen säen, die vielleicht
erst nach Jahrhunderten zur Reife gedeihen können, so dass
sich dann die Masse in einem entwicklungsschwangern Gähr»ngs-
processe aufbläht. Erst wenn es uns gelungen ist, einen sicheren
Anhalt in den ihren Atomvolumen nach ersetzbaren Aequi-
valenten zu gewinnen, dürfen wir uns in die Labyrinthe der
zusammengesetzten Radicale und ihrerVeränderungen hineinwagen.
*
Ein psychologisches Studium der Naturvölker wird uns deshalb
einführen in die Genesis unserer Ide en, die es leicht ist
auf diesen primitiven Stadien zu durchblicken, schwer und verwirrend
dagegen, wenn nur in ihren höchsten Culturschöpfungen
*) Die erste Stufe der indnctiven Forschung ist die geistige Zerlegung der
Naturerscheinungen in ihre Elemente, und die nächste die wirkliche Trennung
dieser Elemente (Stuart Mill).
angeschaut. An welch’ schwankender Unbestimmtheit leidet
schon der wichtigste unserer Begriffe, der der Religiosität, die
Auffassung des Göttlichen oder Uebersinnlichen, das sich Jeder
seiner subjectiven Eigentümlichkeit gemäss zurecht legt.
Wenn Theologen pantheistischen Systemen ihren Atheismus vorwerfen,
nehmen diese gerade die reinste und erhabenste Con-
struction der Gottheit für sich in Anspruch, und während der
Ablasskäufer den gezogenen Wechsel im himmlischen Jerusalem
zu discontiren hofft, bestrebt sich der Yankee religiös zu erscheinen,
weil es seinen Credit an der Börse befestigt. Die polemischen
Discussionen Uber das Wesen der Gottheit mögen bis
an’s Ende der Welt fruchtlos fortgeführt werden, so lange wir
uns nicht die Mühe nehmen wollen, auf die früheren Entwicklungsstadien
des Denkens zurückzugehen und zu untersuchen,
unter welch einfachsten Formen sich die Religion für nothwen-
dige Deckung ethischer Bedürfnisse zuerst in dem Geiste der
Naturmenschen dargestellt, und wie sie sich dann unter organischen
Wachsthumsprocessen zu den geläuterten Schöpfungen
der Culturvölker entfaltet. Nur in der ethnischen Psychologie
wird sich Schleiermacher’s Ausspruch von dem Ursprünglichen
der Religion im Menschengeiste richtig präcisiren lassen. Nicht
anders verhält es sich mit der Seele. All’ der traurige Scandal
des Seelenstreites, der vor einigen Jahren mit klappernden Holzwaffen
geführt wurde und durch oberflächlichste Definitionen
des Edelsten im Menschen unsere Literatur entwürdigte, a ll’ dieses
hohle Geschwätz wäre zu vermeiden gewesen, wenn wir durch
Eingehen in die „Vorstellungszustände, die (nach Herbert) zum
Ich zusamraenschmelzen“, vorher den Gedankengang der Na turvölker
analysirt hätten, dort das Entstehen der Wortbezeichnungen
für Seele und die verschiedenen Geisteskräfte geprüft
und dann erst nach Anknüpfung eines leitenden Ariadnefadens
m das Labyrinth der Speculation eingetreten wären, um nachzu