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520 Buch XI. Kap. 5. §. 71.
sondern aufhob. Soll des Trithemius Zeugniss irgend etwas bedeuten,
so steht fest, dass Hildegardis eine Heilmittellehre geschrieben;
soll ihr Schweigen davon in ihren Briefen das Gregentheil
beweisen, so muss des Trithemius Zeugniss vollständig verworfen
werden; wer gegen, der muss auch für die Sache zeugen
dürfen. Den aller geringsten Werth lege ich endlich auf die von
den Gegnern urgirten angeblich obscönen Ausdrücke in der Physik,
die einer fast heiligen Frau unwürdig sein sollen, und ich freue
mich zu sehen, dass Choulant dies Argument nicht einmal der Erwähnung
werth achtete. Wie man in medicinischen Schriften durchaus
würdiger Haltung das Besprechen natürlicher Dinge obscön
finden kann, begreife ich nicht, vollends zu jener Zeit, da man
sich noch nicht an lasciven Balletsprüngen ergötzte, aber auch
noch nicht erröthete vor dem unschuldigen Wörtlein Hose. Sieht
man näher zu, so' bemerkt man in der Physik unsrer Hildegardis,
statt der vielen Aphrodisiaka griechischer römischer und arabischer
Aerzte, eine Reihe von Mitteln zur Abstumpfung des Geschlechtstriebes
und Förderung der Keuschheit, deren Empfehlung einer
Klosterfrau gar wohl ansteht. Von der andern Seite sprechen für
die Aechtheit der Physik, ausser des Trithemius halbem Zeugniss,
das sowohl der alten Ausgaben als des pariser Codex und, was
Reuss als gründlicher Kenner aller Werke der Verfasserin besonders
betont, die Uebereinstimmung der Physik mit den übrigen
Werken der Hildegardis im Geist des Mysticismus und der Eigenthümlichkeit
der Sprache. Gesetzt aber, Hildegardis wäre dennoch
nicht die Verfasserin der Physik, so würde dadurch des Werkes
Zeitalter, w^orauf sein Werth für uns beruht, doch nicht erschüttert,
die zahlreich darin vorkommenden deutschen Wörter stehen genau
auf der Grenze des Altdeutschen und Mitteldeutschen, das
heisst, sie entsprechen dem Zeitalter der Aebtissin Hildegardis,
wie einer der gründlichsten Kenner unsrer alten Sprache Hoffmann
von Fallersleben wiederholt anerkannt hat. Das genügt
uns.
Die vier Bücher des Werks führen folgende Titel: Liber I,
elementorum, fluminum aliquot Germaniae, metallorumque naturae
Buch XI. Kap. 5. §, 71- 521
et efFectus; Liber II, de naturis et effectibus leguminum,
f r u c t u um et her bar um; Lib. III, de naturis et effectibus arborum
arbustorum et fruticum, fructuumque eorundem;
Lib. IV, de naturis et effectibus piscium volatilium et animantium
terrae. Diese Titel könnten den Leser das Ganze für
eine wahre Naturgeschichte zu halten verleiten; in der That ist
es jedoch nur eine Heilmittellehre, und selbst die im ersten Buch
aufgeführten Gewässer, der Bodensee, Rhein, Main, die Donau,
Mosel, Nahe und Glan, werden nur in so fern betrachtet, als ihrem
Wasser oder ihren Fischen ein verschiedener Einfluss auf. die Gesundheit
des menschlichen Körpers zugeschrieben wird. Für uns
kommen nur das zweite und dritte Buch in Betracht, jenes aus
113, dieses aus 53 Kapiteln über verschiedene Pflanzen bestehend.
Sie alle aufzuzählen, überhebt mich die angeführte leicht zugängliche
Schrift von Reuss; ich beschränke mich auf die Deutung der
zweifelhaften Pflanzennamen, bei denen ich bald von Sprengel,
bald von Reuss, den einzigen, die sich bisher an dieser Aufgabe
versuchten, oft auch von beiden abweichen zu müssen glaube.
Wer die Schwierigkeit ihrer Lösung kennt, wird sich nicht wundern
über die dabei zu Tage kommende Verschiedenheit der Meinungen.
Beschreibungen fehlen, bekannte Schriftsteller werden
weder citirt, noch stillschweigend benutzt, die empfohlene Anwendung
weicht von der sonst üblichen meist weit ab; es kommt darauf
an, bei Andern eine Erklärung der zweifelhaften Namen zu
entdecken oder gar nur aus des Namens Klang seine Bedeutung
zu diviniren. Das vornehmste Hülfsmittel dazu bieten die zahlreichen
botani sche n Glossarien des Mittelalters dar, die meine
Vorgänger noch unbenutzt liessen, und unter denen ich vor andern
folgende sehr brauchbar fand, und unter den anzugebenden Abkürzungen
citiren werde.
1. Aus Eckhart i commentarii de rebus Franciae orientalis:
Gl W. — Glossa Wirceburgensis, Tom. II, pag. 980.
(Stehen auch in Reuss Anhange zu seiner Ausgabe des Walafridus
Strabus pag. 73, wo sie jedoch in die Noten verwiesen
sind). Sie sollen dem IX. Jahrhundert angehören.
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