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518 Buch XI. Kap. 5. §. 71.
Leider ist dies Werk, obgleich zweimal gedruckt, so selten, dass
Hallerl) es nicht einmal kannte, und eine der beiden Ausgaben
für ein besonderes über die Physik unsrer Aebtissin geschriebenes
Werk hielt; sonst wäre auch die geringe Aufmerksamkeit, die man
bis vor kurzem der jedenfalls höchst merkwürdigen Frau widmete,
kaum begreiflich. Denn nicht nur der deutsche Botaniker und
Zoologe finden in ihrer Physik fast die ersten rohen Anfänge
v a t e r l ä n d i s c h e r Naturforschung, auch dem Arzt bietet sie
eine für jene Zeit überraschende Erscheinung dar, eine nicht von
Dioskorides abgeleitete, sondern unverkennbar aus der Volksü
b e r l i e f e r u n g geschöpfte Heilmittellehre; und der
Sprachforscher stösst im lateinischen Text beinahe Zeile um Zeile
auf deutsche Ausdrücke seltener Sprachformen.
G e d r u c k t ist die Physica nur in den beiden Ausgaben der
von dem strasburger Buchdrucker Joanne s Schott veranstalteten
Sammlung medicinischer Schriften, deren weitläuftigen Titel ich
Band H, Seite 271 mittheilte; handschrift l ich soll sie nur in
einem schon von Haller angezeigten pariser Codex vorhanden sein.
Sehr dankenswerth ist daher die Mühe, welche F. A. Reuss auf
die Auslegung erst des botanischen Theils, dann der ganzen Physik
der Hildegardis verwandt hat und verwendet. Schon im Anhange
zu seiner Ausgabe des Walafridus Strabus lieferte, er, wie
vor ihm Sprengel in der Geschichte der Botanik, ein Verzeichniss
der von Pflanzen handelnden Kapitel mit kurzen Erläuterungen,
Ein Jahr darauf erschien folgende kleine Schrift, die nach
einer kurzen Biographie und Literatur ein Verzeichniss aller, auch
der nicht botanischen Kapitel der Physik nebst Interpretation der
Ueberschriften, und bei vielen einen bald kürzern bald längern
Auszug aus dem Text enthält:
F. A. ß e u s s de libris physicis St. Plildegardis, commentatio
historico-medica. Wirceburgi 1835. 8.
Zugleich versprach uns der Verfasser darin eine neue vollständige
Ausgabe der Physik, auf die wir bis jetzt vergebens hoiFten, die
1) Ii all er bihliotheca hotanica I pag. 218.
Buch XL Kap. 5. §. 71. 519
jedoch nun, wie ich zu meiner Freude vernehme, gestützt auf eine
sorgfältige Collation der pariser Handschrift, recht bald erscheinen
soll. Auch Choulant widmete der heiligen Hildegardis in der
zweiten Ausgabe seines Handbuchs einen ausführlichen Paragraphen,
neigte sich jedoch denen zu, die schon früher die Aechtheit der
Physik bezweifelten. Ich kann so wenig wie Reuss diese Meinung
theilen^ Beleuchten wir die Gründe, worauf sie sich stützt.
Simmler 1) war der erste, der offenbar nur aus Unkenntniss
eine heilige Hildegardis de Pinguia als Verfasserin der
Physica von Hi ldegardis, der Aebtissin des Klosters
des heiligen Rupertus, unterschied. Er wusste nicht, dass
dasselbe Kloster, weil es neben Bingen liegt, den Namen St. Ruperti
in Pinguis oder de Pinguia führte. Darauf ist also nichts zu geben.
Aber Trithemius2), der ein Verzeichniss der Schriften unsrer Aebtissin
lieferte, kennt die vier Bücher ihrer Physik nicht, und schreibt
ihr dagegen Ein Buch von den einfachen. Eins von den
z u s a m m e n g e s e t z t e n Heilmitteln zu, die wir nicht kennen.
Das ist das einzige scheinbar bedeutende Argument der Geo'ner.
Indess sind des Trithemius Angaben, besonders bei nicht theologischen
Schriften, bekanntlich nicht selten ungenau. Einfache und
zusammengesetzte Heilmittel nach einander abzuhandeln, war der
gewöhnliche Zuschnitt solcher Werke; Hildegardis spricht bei
Gelegenheit der einfachen auch von vielen zusammengesetzten Mitteln;
die Verwechselung konnte daher bei etwas unvollständiger
Nachricht leicht genug eintreten. Es bedurfte stärkerer Beweismittel,
und man brachte nur noch schwächere vor. In ihren Briefen
soll E[ildegardis ihrer Physik gar nicht erwähnen. Wie konnte sie
das, wenn sich dieselben fast nur mit Gewissensangelegenheiten
vornehmer Personen beschäftigten? Wie leicht wiegt überhaupt ein
negativer Beweis solcher Art! Und dann übersahen die Gegner,
dass dies Argument das vorhergehende nicht nur nicht bekräftigte,
1) Bihliotheca instituía et collecta primum a Conr. Gesnero, deinde in Epitomen
redacta . . . .per Jo si am 8 i ml er um. Tiguri 1574 in foh, pag. 301.
2) Trithemius de seriptorihus ecdesiasticis, cap. 405, unterandern in
Fabricii hihlioih. eccles. pag. 102.
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