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196 B u c h X. Kap. 4. 25.
streng systematisch sei, befriedige es, wie alle Systeme der Medicin,
den Praktiker nicht. Als ob dem Schriftsteller die Wahl seines
Gegenstandes nicht freistände. Der Qanün sollte nun einmal
ein System der Medicin sein; für die praktische Medicin war, wie
wir hörten, ein Anhang bestimmt, den wir leider nicht besitzen.
Des Urtheils über Ibn Sinä als Praktiker sollte man sich daher
von Rechts wegen ganz enthalten. Und wenn dem Qanün alles
Verdienst abginge, was erhob ihn denn nach seiner Erscheinung
so plötzlich über alle Werke ähnlicher Art? was erhielt ihn bis
ins sechzehnte Jahrhundert und drüber hinaus in so hohem Ansehen?
Grosse Wirkung setzt doch immer eine grosse Ursache
voraus. Dem heutigen Mediciner, zumal dem praktischen Arzt gewährt
das Studium des Qanün vielleicht wenig Nutzen. Es sei;
allein der Historiker soll untersuchen, welche Bedeutung ein Werk
in seiner Zeit hatte, wodurch es sie gewann und eine Zeit lang
behauptete; und der Qanün liegt viel zu weit hinter uns, um jetzt
noch von einem andern als dem historischen Standpunkt aus beurtheilt
zu werden. Ganz anders stand die Sache, als es noch
darauf ankam des Ibn Sinä's und des Galenos verjährte Auctorität
zu brechen, die Medicin auf den Weg eigner Beobachtung zurück
zu führen, also mit Einem Wort während des Kampfs gegen die
sogenannten Arabisten. Doch der Kampf ist lange ausgekämpft;
das verkennen Ibn Sinä's heutige Verächter. Allein ich überschreite
meine Befugniss, indem ich den Arzt gegen Aerzte vertheidige,
und wende mich lieber zu seinen botanischen Leistungen.
Wennvon irgend einem Araber, so dürfen wir von Ibn Sind, dem
Arzt und Philosophen, erwarten, dass er nicht bloss den speciellen
Pflanzen als Heilmitteln, sondern auch der Na tur der Pflanze
im Al lgemeinen seine Aufmerksamkeit schenkte. Von seinem
anoO- eblichen Werke über die Thiere und Pflanzen bemerkte ich
bereits, es hätte wahrscheinlich nur ein Kapitel des Schifa ausgemacht.
Es steht nicht einmal unter den 105 Werken und Abhandlungen,
deren Titel Wüstenfeld aufzählt, In dem noch vorhandenen
Auszuge aus jenem Werk, seiner Nigadt finde ich nichts über
die Pflanzennatur. Eben so wenig darüber bieten seine andern
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philosophischen Schriften dar, so weit wir sie bis jetzt, meist nur
in barbarisch lateinischer Uebersetzung, kennen. Etwas Anhalt
giebt uns Aschscharastäni , der arabische Geschichtschreiber
der Philosophie in seinem oben §. 16 bereits besprochenen Werke,
indem er der Philosophie des Ibn Sina, gleichsam als dem Typus
aller arabischen Philosophie, eine ausführliche Darstellung widmet i).
Nach ihm gliedert sich des Ibn Sina ganze Philosophie in Logik
Metaphysik und Physik. Zu letzterer rechnet er die Lehre von
den Seelen, deren er drei unterscheidet, die Pflanzenseele, die
Thierseele und die Menschenseele. Der Pf lanzenseel e schreibt
er drei Kräfte zu, die e rnähr ende , die des W a c h s t h ums und
die erzeugende. Jede der drei Kräfte wird deflnirt, und dann
sogleich zur Thierseele übergegangen. Das ist, wie man sieht,
ungefähr dasselbe, was schon Aristoteles im zweiten Buch am Ende
des vierten Kapitels seines Werks von der Seele, und zwar in
tiefem Zusammenhange und reicher Gedankenfülle lehrte. Ueber
beides, über Gedankenfülle und Tiefe des Zusammenhangs bei Ibn
Sina gestattet uns der dürre Abriss seiner Lehre kein Urtheü.
Aber eine Abweichung von Aristoteles ergiebt sich doch, und ist
einer nähern Betrachtung werth. Nach Aristoteles ist die Ernährung
die erste und einfachste Definition des Lebens selbst; nach
Ibn Sina ist sie eine der drei Kräfte desselben. Ich glaube kaum,
dass Aristoteles diesen Ausdruck gebilligt hätte. Zwar kannten die
Alten als Wirkung der Ernährung nur das Wa c h s t h u m und die
F o r t p f l a n z u n g ; zum vollständigen Begriff des Lebens fehlte
ihnen noch das dritte dialektische Moment, was erst von Göthe
(noch nicht von Kaspar Friedrich Wolf, wie sich Einige einbilden)
klar erkannt und ausgesprochen wurde, - die Metamorphose.
Vielleicht empf and der stets um formale Genauigkeit besorgte Araber
diesen Mangel, und meinte ihm dadurch abhelfen zu können,
dass er die Ernährung mit dem Wachsthum und der Fortpflanzung
in Eine Linie stellte. Nicht so Aristoteles. Sein Dämon rang um
\ ) A s c h - S c h a h r a s t d n i II. s .w. Theil IJ, Seite 213-332.. Die Physik
beginnt Seite die Lehre von der Seele Seite 310,
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