Der Morgen des 29. Augusts hatte noch nicht gedämmert, als wir
die Anher lichteten, um das entgegengesetzte Continent zu erreichen,
dessen Ansicht uns durch die, drei Legoas lange, Insel U ararahy entzogen
war. Dieses niedrige, gleich den benachbarten dichtbewaldete,
Eiland liegt fast in der Mitte der Mündung des T ocan tin s, und theilt
sie in zwei ausgedehnte Buchten, deren östliche B a h ia d e M arapatd,
die westliche B a h ia ,d o L im oeiro genannt wird. Wir sahen ein Meer
von süssem Wasser yor uns, das sich selbst durch seine etwas mehr
in’s Gelbliche ziehende Farbe von den Gewässern unterschied, die wir
bisher befahren hatten. Ehedem machte man die Ueberfahrt zu dem,
fünf Legoas entfernten, Continente, indem man einen Canal [F u ro ) in
der Insel U ararahy aufsuchte, und nach Durchschiffimg desselben am
westlichen Ufer der Insel hinabfuhr, um die Sandbänke zu vermeiden,
welche ihrem Südtheile gegenüber nach W . sich ausdehnen. Seitdem
sich aber jenes F u r o .geschlossen hat, pflegt man U ararahy und zwei
andere kleinere westliche Eilande, Saracd und PatU in ga, von der
Südseite zu. umschiffen., um das Festland zu erreichen. Diese Ueberfahrt
ist für kleine oder tief beladene und schwer zu lenkende Canoas
mit Gefahren verbunden , und man sucht sie in einer Ebbe zu bewerkstelligen,
indem man vor Eintritt des Hochwassers abstösst, um mit diesem
über die Sandbänke jenseits der Insel wegzukommen. Ist aber das
Wasser unruhig, öder der Pilot mit dem Fahrwasser nicht sehr vertraut,
so braucht man wohl mehrere Tage. Während der trocknen
Monate ist weniger Vorsicht nöthig, als in der Regenzeit, wo es stets
gerathen ist, vor demUochwasser am Morgen abzustossen, weil Abends
heftige Donnerwetter einfallen, die die Fahrzeuge huf die häufigen Sandbänke
treiben können. Der Mond war vor 7 Uhr Abends durch den
Meridian gegangen, und das Hochwasser trat gegen Mitternacht ein,
wir hätten daher.früher, als es geschehen wa r , aufbrechen, müssen, um
in kürzester Frist an das ^gegenüberliegende Ufer zu kommen. Einmal
verspätet, konnten wir-nicht mit gleicher Schnelligkeit segeln, und wir
hatten am 3o. August Vormittags nur die Hälfte des Weges nach der
Insel U ararahy zurückgelegt, als der Wind, mit Regenschauern, immer
heftiger zu werden, und dieses Meer zu so hohen Wellen zu empören
anfing, dass unser Fahrzeug aus allen Fugen zu gehen drohte. Wir
nahmen daher gerne den Vorschlag des Piloten an, am südlichen Ufer
der IIh a Pautinga anzulegen, und daselbst günstigere Witterung abzuwarten.
Einem ganz neuen höchst frappanten Anblicke begegneten
wir auf diesem kleinen, sich kaum einige Spannen hoch über das Gewässer
erhebenden, Eilande. Unzählige Miritipalmen (M auritia fle -
oeuosa, L .) deren graue, glatte Stämme, im Durchmesser von anderthalb
bis zwei Fuss, eine gewaltige Krone ungeheuerer Fächerblätter
hundert und mehr Fuss hoch in die Luft tragen, schienen die einzigen
Bewohner desselben, und sie waren so dicht gesäet, dass sie an manchen
Orten gleich Pallisaden einer Gigantenfestung aneinander standen.
Wo sie der Strom umgerissen hatte, bildeten sie, wild durch einander
liegend, mehrere Klafter hohe Bollwerke, die wir nur mit Mühe erkletterten,
um eine Aussicht auf die ganze Umgebung zu gewinnen. Diese
Fürsten der Wälder, zu Tausenden über einander hingestürzt, und der
Wuth der Gewässer oder dem Frasse der Fäulniss überlassen, gleichsam
beklagt von den überlebenden, deren wallende Wipfel ohne Unterlass im
Sturmwind rauschen, sind ein ungeheures Bild von der unerbittlichen
Kraft der Elemente. „Welch schrecklicher Aufenthalt müsste diese verlassene,
in der Fülle der Naturkraft öde, Insel dem einsamen europäischen
Schiftbrüchigen seyn“ sagte ich zu mir selbst, der Schicksale
Robinson Crusoes, wie sie sich der jugendlichen Phantasie eingedrückt
hatten, gedenkend. Und dennoch ist der Baum, welcher sich ausschliesslich
zum Herrn dieser Insel gemacht hat, für viele Stämme der
Ureinwohner America’s ein Baum des Lebens 5 an ihm hängt der amphibische
Guarau.no während der Regenzeit, bei allgemeiner Ueber-
schwemmung, sein Netz auf, von ihm erhält er Obdach, Nahrung,
Kleidung 5 — so verschieden sind die Bedürfnisse der Menschen. (2.)
Unsere, am Abend fortgesetzte Fahrt war nicht glücklich, denn wir
konnten, wegen widrigen Windes, die Bai von L im oeiro nicht erreichen.
Gross war die Gefahr, auf Sandbänke zu gerathen, oder, wenn
wir in tiefem Grunde geankert hätten, durch die gewaltigen Wogen
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