eigentlich eine lange Strafse, so dafs ich fortdauernd den Anblick menschlicher
Wohnstätten und menschlicher Hanthierungen zu Gesichte bekam,
mit allen jenen Zuthaten, welche vom Bauernleben, zumal im Innern
Rufslands, unzertrennlich sind. Hier kamen Schweine und Kinder gemeinschaftlich
aus den Holzbaracken, dort sättigten sich Bauern am Quass und
am Wodka, dort lüfteten Andere ihren Hut vor Heiligenbildern und bekreuzigten
sich andächtig; hier hechelten die Weiber Hanf, spannen Leinen
und breiteten die Leinwand aus. Zuletzt wurde mir von der ununterbrochenen
Bauernwirthschaft so urpoetisch zu Muthe, dafs ich in mein
Tagebuch folgende Verse niederschrieb, die am Besten die Art meiner
Stimmung, wenn auch nicht in schönen, so doch in tief empfundenen
Worten ausdrückten:
„Die Bäuerin sitzt vor der Thür
Und strickt an ihrem Strumpfe, ’
Die Sau wälzt sich nicht weit von ihr
Urwohlig in dem Sumpfe.
. . ■ So geht es hier Tag aus, Tag ein:
Der Strumpf wird immer länger,
Und immer fetter wird das Schwein,
Der Bäu’rin Mieder enger.“
In der Stadt Tula, welche nicht nur in. Rufsland, sondern auch im Auslande
durch ihre Stahlwaaren-Industrie eine grofse Berühmtheit erlangt hat,
begann für mich die eigentliche Civilisation. Des unerquicklichen Strafsenle-
bens müde, sehnte ich mich aber auch mit heifsem Verlangen nach den Fleischtöpfen
Europas. Die Sehnsucht war um so natürlicher und wurde nur erhöht
durch den unaufhörlichen Aerger mit den Postmeistern, welche mich an
den Stationen lange warten liefsen und entweder gar keine oder schlechte
Pferde stellten. Hierzu kamen die ewigen Mifsverständnisse, zu welchen
mein russischer Dolmetscher Veranlassung gab, indem er wahrscheinlich ein
russisches Idiom redete, welches mit seinem verwünschten Judendeutsch auf
einer Stufe stand. Die Postmeister und die Posthäuser fingen an eine gewisse
Vornehmheit zu zeigen, die aber schlecht zu ihrem Geschäfte pafste
und nur durch Geld klein zu machen war. Auch die Chaussée wurde all-
mälig je näher 1 ula so schlecht, dafs es ein wahres Glück zu nennen war,
wenn ich bei der nächtlichen Fahrt mit meinen Begleitern kein gröfseres
Unglück riskirte, als aus dem Wagen herausgeschleudert zu werden.
Der Anblick der Stadt Tula von der Landstrafse aus ist ziemlich malerisch;
vorzüglich hebt sich die Hauptkirche, umgürtet von einer festungsartigen
Mauer, sehr vortheilhaft hervor. Trotz der grofsstädtischen Nähe
war die nach der Stadt führende Chaussée immer noch mit wandernden
Weibern bedeckt, welche einzeln und in ganzen Massen nach Moskau hin
pilgerten, wahrscheinlich um dort irgend einem Heiligen ihre Verehrung
auszudrücken. Dabei führten sie auf der offenen Strafse ein so ungenirtes
Leben, dafs ich nicht selten den unschönen Anblick alter Frauen hatte,
welche, am Rande der Chaussée, nur mit dem Hemde bekleidet, dasafsen,
um sich zu sonnen. In Tula, wie gesagt, beginnt bereits das grofsstädti-
sche Leben und man kann bei vorhandenen Mitteln den europäischen Comfort
bis zum gröfsten Luxus steigern. Die Gostinitza, welche sich neben
dem Posthause befand, könnte füglich als ein glänzendes Hôtel angesehen
werden, und ich war ebenso überrascht als beschämt, als ich die Thür des
Speisezimmers öffnete und unerwartet eine gewählte und feine Gesellschaft
an einer wohlbesetzten Tafel diniren sah. Mein Reisecostüm war für einen
solchen Cirkel wenig geeignet, aber einige russische Herren., w'elche an
dem einen Ende der Tafel safsen, beeilten sich meinem Rückzuge zuvorzukommen
, indem sie mich in der liebenswürdigsten Weise Platz zu nehmen
baten. Man rückte zusammen, fragte mich, von wannen ich' käme
und wohin ich ginge, und überschüttete mich mit den ausgesuchtesten Artigkeiten.
Eine gegenseitige Vorstellung liefs mich sehr bald erkennen,
dafs die Herren, welche ebenso geläufig deutseh wie französisch sprachen,
den höheren Kreisen der Petersburger Gesellschaft angehörten, und dafs
sich unter ihnen neben einigen russischen Fürsten auch ein Oeremonien-
meister S.. M. des Kaisers befand. Freiwillig händigte man mir Empfehlungskarten
an bedeutende Persönlichkeiten in Moskau und St. Petersburg
ein, und bereitete mich auf den Einzug und die Anwesenheit des Kaisers
Alexander in Moskau vor.
An Leib und Seele neu gestärkt, trennte ich mich nicht ohne Rührung
und ohne herzlichsten Dank von meinen Tischnachbaren, von denen einer
seine Freundlichkeit so weit trieb, mich bis zu meinem Tarantas zu begleiten.
' Ich habe sowohl hier als auch sonst auf dem übrigen Theil meiner
Reise durch Rufsland es mit gröfser Befriedigung empfunden, wie zuvorkommend
man gegen Reisende aller Nationen ist, welche Amt und
Geschäft nach dem groisen Reiche des Czaren hin führt, Soll ich es offen