Heimathsehnsucht war die neue Verzögerung der Abreise wenig erbaulicher
Natur, während meinem kriegerischen Gefährten vorläufig weniger
die Heimath, als der bevorstehende Kampf gegen die Tscherkessen des
rechten Flügels im Sinne lag.
Am Abend sahen wir bei ziemlich anhaltendem Regen und bei finstererer
Nacht Tiflis im Glanz einer Illumination, die zur Ehre des Namenstages
des Kaisers stattfand. Am meisten waren die Köpfe harmloser Spaziergänger
mit Wudka-Dunst illuminirt, da Russen, Georgier und Armenier,
so schien es mir wenigstens, durch Quantität genossenen Fusels die
Qualität ihrer Freude an dem Geburtstage auszudrücken suchten. ~ Am sonderbarsten
sahen die herumziehenden Tataren aus, welche bei' obligater
Talglichtererleuchtung eine Musik zum Besten gaben, deren Gedudele, Ge-
quäke und Gerassele einen ruhigen Menschen zur Verzweiflung treiben
konnte. In einer einsamen Strafse, die wenig erleuchtet war, genossen
wir nebenbei und aus erster Hand folgenden seltsamen, nur aus drei Personen
bestehenden Festzugsanblick. Ein Georgier, so sah er wenigstens nach
seiner Tracht aus, blies auf einer quäkenden Duckelsackpfeife eine höchst
barbarische Melodie, deren hohe Töne er durch ein ungemein komisches
Zusammenbiegen des ganzen Körpers und durch das Aufheben des rechten
Fufses in drastischer Weise zu verstärken suchte. Ihm folgte ein zweiter
Georgier, ziemlich sichtbar aufgeputzt, hin und her wankend und gestützt
auf den Arm eines bärtigen Nachbars, dessen Füfse ebenfalls das natürliche
Gleichgewicht des Körpers nur mit grofser Mühe aufrecht zu erhalten
strebten, und der in der rechten Hand ein halb zerflossenes, vom Winde
hin und her bewegtes Talglicht trug. Dieser merkwürdige Zug, in Schlangenlinien
sich langsam vorwärts bewegend, stellte die übliche Hochzeitsvisite
eines georgischen Bräutigams nach dem Hause seiner Braut am Vorabend
der Trauung dar. Der Alte war der Schwiegervater, der geputzte
jüngere Mann der Bräutigam. Welch einen Eindruck die glückliche Braut
bei dem Erscheinen dieses Zuges gewinnen mufste, das kann kein menschlicher
Verstand ermessen, vielleicht, dafs in landesüblicher Auffassung die
Stimmung der beiden beschriebenen Georgier zur Feier des folgenden Tages
als unerläfslich nothwendig angesehen wird.
Den 8. Mai. Wir haben heute den zeltartigen Circus auf dem Alexanderplatze
besucht, woselbst eine deutsche Kunstreitergesellschaft, von Mr.
P h i l ip p s für einige Tage gemiethet, mehrere Vorstellungen geben wollte.
Es war stickend voll und am Eingänge kein einziges Billet mehr zu erhalten.
Ein vornehmer Russe, der uns begleitete, begab sich mit uns
nach der hinteren Wand des Circus, klopfte mit seinem Stocke trotz der
postirten russischen Soldatenwachen in der Umgebung an die Wand des
angrenzenden Bretterzaunes, und es entwickelte sich sehr bald folgende
Unterhaltung:
„Que diable qui frappe là ? “
„G’est moi, votre connaissance. Il n’y a plus de place, Mr. Philipps,
mais il en faut trois pour moi.“
„Sans doute Mr. T. mais que fairet 11 n’y a plus de temps, car
je dois me mettre en Chinois. Cependant je vais courir?“
„Merci, Mr. Philipps, vous êtes un excellent homme.“
Es dauerte auch gar nicht lange, so öffnete sich eine kleine Bretterthür,
durch welche man einen Blick in die Geheimnisse des Ankleidezimmers
werfen konnte, und Hr. P h i l ip p s erschien in dem seltsamsten Costüme
von der Welt: die unteren Extremitäten mit einem phantastisch - chinesischen
bunten Costüm bedeckt, der Oberkörper mit einem schwarzen Frack
bekleidet, um unter allgemeiner Bewunderung des draufsen stehenden Publikums
aus allen Kräften zu dem Billeteur zu laufen, der von einer dichten
kauflustigen Schaar eine förmliche Belagerung aushalten mufste. Trium-
phirend kehrte der liebenswürdige Mann mit drei Billeten zurück.
Diese merkwürdige Person ist in Rufsland ziemlich bekannt. Von Geburt
ein Franzose hat Mr. P h i l ip p s bereits ein paar Mal jenseits und
diesseits des Kaukasus sein Glück 'gemacht, aber eben sobald wieder alles
verloren, denn, wie die Russen sagen: Monsieur est trop généreux. Gegenwärtig
zwei und sechszig Jahre alt, hat er es versucht in Tiflis zu
reussiren und in jeder Weise seine reiche Begabung zur Geltung zu bringen.
Er ist Schauspieler, Sänger, Virtuose in der Musik, Akrobat, Jongleur,
Magiker und was weifs ich noch Alles. Die Vorstellung war mit
Ausnahme der höhern Magie des als „Chinois“ verkleideten P h i l ip p s und
der witzigen Kunststücke eines langbeinigen Clowns ziemlich mäfsig. Um
Zuschauer heranzuziehen erhielt jeder der Theaterbesucher zu seinem Billet
eine entsprechende Zahl von numerirten Loosen, die für die Lotterie am
Ende der Vorstellung bestimmt waren Das sehr gemischte Publikum im
Circus bestand zur gröfseren Hälfte aus wilden Kerlen. Russen, Georgier,
Armenier, Perser, Europäer safsen in den buntesten Trachten neben