
höchst auffallenden Unterschieden. Der Amphioxus hat, wie Sie
wissen, noch keinen gesonderten Kopf, noch kein ausgebildetes
Gehirn, keinen Schädel, keine Kiefer, keine Gliedmaßen; ebenso
fehlt ihm ein zentralisiertes Herz, eine entwickelte Leber und Niere,
eine gegliederte Wirbelsäule; alle einzelnen Organe erscheinen viel
einfacher und ursprünglicher als bei den höheren Wirbeltieren und
dem Menschen gebildet. (Vergl. die XVII. Tabelle, S. 463.) Und
dennoch, trotz aller dieser mannigfachen Abweichungen von dem
Bau der übrigen Wirbeltiere, ist der Amphioxus ein echtes, ein
unzweifelhaftes Wirbeltier; und wenn wir statt des entwickelten
Menschen den menschlichen Embryo aus einer früheren Periode
der Ontogenese mit dem Amphioxus vergleichen, so finden wir
zwischen beiden in allen wesentlichen Stücken eine auffallende
Uebereinstimmung. (Vergl. die XVI. Tabelle, S. 462.) Diese bedeutungsvolle
Uebereinstimmung berechtigt uns zu dem Schlüsse,
daß sämtliche Schädeltiere von einer gemeinsamen uralten Stammform
abstammen, welche im wesentlichen dem Amphioxus gleichgebildet
war. Diese Stammform, das älteste „Urwi rbe l t !e r “
(.Prospöndylus, Fig. 101— 105), besaß bereits die Charaktere des
Wirbeltieres als solchen, und dennoch fehlten ihm alle jene wichtigen
Eigentümlichkeiten, welche die Schädeltiere vor den Schädellosen
auszeichnen. Wenn auch der Amphioxus in mancher Beziehung
eigentümlich organisiert urtd mehrfach degeneriert erscheint, wenn
er auch nicht als ein unveränderter Abkömmling jenes Urwirbel-
tieres betrachtet werden kann, so wird er doch die bereits angeführten
entscheidenden Charakterzüge von ihm geerbt haben. Wir
dürfen daher nicht sagen: „Amphioxus ist der Stammvater der
Wirbeltiere“ ; wohl aber dürfen wir sagen: „Amphioxus ist unter
allen uns bekannten Tieren der nächste Verwandte dieses Stammvaters“
; er gehört mit ihm in dieselbe engere Familiengruppe, in
jene niederste Wirbeltierklasse, welche wir Schäde l lo s e (.(4crania)
nennen. In unserem menschlichen Stammbaum bildet diese Stammgruppe
die zwölfte Hauptstufe unserer Vorfahrenkette, die erste
Stufe unter den Wirbeltierahnen (S. 584). Aus dieser Acranier-
gruppe ist einerseits der heutige Amphioxus, anderseits die Stammform
der Schädeltiere, der Cranioten, hervorgegangen.
Die umfangreiche Hauptabteilung der Sch äd e l t i e r e (Cra-
niota) umfaßt alle uns bekannten Wirbeltiere, mit einziger Ausnahme
des Amphioxus. Alle diese Schädeltiere besitzen einen
deutlichen, vom Rumpfe innerlich gesonderten Kopf, und dieser
enthält einen Schädel, in welchem ein Gehirn eingeschlossen liegt.
Dieser Kopf ist zugleich der Träger von drei Paar höheren Sinnesorganen
(Nase, Auge und Ohr). Das Gehirn erscheint anfänglich
nur in sehr einfacher Form, als eine vordere blasenförmige Auftreibung
des Markrohres (Taf. XIX, Fig. 16 ?%). Bald aber zerfällt
die letztere durch mehrere quere Einschnürungen in anfänglich
drei, später fünf hinter einander liegende Hirnblasen (S. 385).
In dieser Ausbildung von Kopf, Schädel und Gehirn, nebst Fortbildung
der höheren Sinnesorgane, liegt der wesentlichste Fortschritt,
den die Stammformen der Schädeltiere über ihre Vorfahren,
die Schädellosen, hinaus' taten. Außerdem erreichten aber auch
andere Organe schon frühzeitig einen höheren Grad der Entwickelung:
es erschien ein kompaktes zentralisiertes Herz mit Klappen,
eine höher ausgebildete Leber und Niere; auch in manchen anderen
Beziehungen machten sich bedeutungsvolle Fortschritte geltend.
Wir können unter den Schädeltieren zunächst wiederum zwei
Hauptabteilungen unterscheiden, die Rundmäu l e r (Cyclostoma)
und die Ki e f e rmä u l e r (Gnathostoma). Von den ersteren leben
heutzutage nur noch sehr wenige Formen; diese sind aber deshalb
von hohem Interesse, weil, sie ihrer ganzen Organisation nach
zwischen den Schädellosen und den Kiefermäulern stehen. Sie
sind viel höher organisiert als die Acranier, viel niedriger als die
Fischts und stellen auf diese Weise ein sehr willkommenes phylogenetisches
Bindeglied zwischen beider! Abteilungen dar. Wir dürfen
sie daher als eine besondere Zwischengruppe, als vierzehnte und
fünfzehnte Stufe in unserer menschlichen Ahnenreihe aufführen.
Die wenigen heute noch lebenden Arten der Cyclostomenklasse
verteilen sich auf zwei verschiedene Ordnungen, welche als Inger
und Lampreten bezeichnet werden. Die Inge r oder Schleimfische
(Myxinoides) haben einen langgestreckten, cylindrischen, wurm-
ähnlichen Körper. Sie wurden von JAnyif zu den Würmern, von
anderen Zoologen später bald zu den Fischen, bald zu den Amphibien,
bald zu den Mollusken gerechnet. Die Myxinoiden leben
im Meere gewöhnlich schmarotzend auf Fischen, in deren Haut
sie sich mittelst ihres runden Saugmundes und ihrer mit Hornzähnen
bewaffneten Zunge einbohren. Bisweilen findet man sie
lebend in der Leibeshöhle der Fische (z. B. des Dorsches und
Störes); sie sind dann auf ihrer Wanderung durch die Haut des
Fisches bis in das Innere durchgedrungen. Die zweite Ordnung,
die Lampreten (Petromyzontes), umfaßt die bekannten Neunaugen
oder Pricken, die Sie alle in mariniertem Zustande kennen
werden: das kleine Flußneunauge (.Petromyzon fluviatilis) und
H a e ck e l, Anthropogenie. 5. Aufl. 3^