
Ueberhaupt findet im höher entwickelten Tierkörper eine so
vielfache Durchflechtung, Verschiebung und Verwickelung der
verschiedenartigsten Teile statt, daß es oft äußerst schwierig ist,
die ursprüngliche Quelle aller einzelnen Bestandteile anzugeben.
Allein im großen und ganzen betrachtet, dürfen wir es als eine
sichergestellte und hochwichtige Tatsache annehmen, daß beim
Menschen, wie bei allen höheren Tieren, der wichtigste Teil der
animalen -Organe aus dem Ha u tb l a t t oder Ektoderm, der
überwiegende Teil der v e g e t a t i v en Organe aus dem Da rmbla
t t oder Entoderm abzuleiten ist. Gerade deshalb hat ja schon
Carl Ernst von Baer das erstere als animales und das letztere
als vegetatives Keimblatt bezeichnet (vergl. S. 47 und 171).
Als sicheres Fundament dieser einflußreichen Anschauung betrachten
wir die Gast rula , jene wi cht ig s t e Keimfo rm des
Tier re i chs , die wir noch heutzutage in der Keimesgeschichte
der verschiedensten Tierklassen in gleicher Gestalt wiederfinden.
Diese bedeutungsvolle Ke im form deutet mit unwiderleglicher
Klarheit auf eine gemeinsame Stammform aller Metazoen hin,
auf die Gast raea; und bei dieser längst ausgestorbenen Stammform
bestand der ganze Tierkörper zeitlebens nur aus den zwei
primären Keimblättern, wie es noch heute vorübergehend bei der
Gastrula der Fall ist. Bei der Ga s t r a e a vertrat das einfache
Hautblatt aktue l l die sämtlichen animalen Organe und Funktionen,
und anderseits das einfache Darmblatt alle vegetalen Organe
und Funktionen; das gilt auch für die modernen Gastraeaden
(S. 551, Fig. 287); potent iel l ist aber dasselbe noch heute bei
der Gas trula der Fall.-
Wie die Ga s t rae atheor ie so im stände ist, nicht nur in
morphologischer, sondern auch in physiologischer Beziehung uns
über die wichtigsten Verhältnisse in der Entwickelungsgeschichte
aufzuklären, davon werden wir uns alsbald überzeugen, wenn wir
zunächst den ersten Hauptbestandteil der animalen Sphäre, den
Se e lenappar at oder das Senso r ium, auf seine Entwickelung
untersuchen. Dieser Apparat besteht aus zwei sehr verschiedenen
Hauptbestandteilen, die scheinbar wenig miteinander zu tun haben :
nämlich erstens aus der äußeren Hautbede ckun g (Tegu-
mentum oder Derma) samt den damit zusammenhängenden Haaren,
Nägeln, Schweißdrüsen u. s. w.; und zweitens aus dem innerlich
gelegenen Nervensys tem. Dieses letztere umfaßt sowohl das
Zentralnervensystem (Gehirn und Rückenmark), als auch die peripheren
Gehirnnerven und Rückenmarksnerven, endlich auch die
Sinnesorgane. Im ausgebildeten Wirbeltierkörper liegen diese beiden
Hauptbestandteile des Sensoriums weit getrennt: die Hau td e ck e
ganz außen am Körper, das Zent r a lne r vens y s tem ganz
innen. Nur durch einen Teil des peripheren Nervensystems und
der Sinnesorgane hängt das letztere mit der ersteren zusammen.
Dennoch entsteht, wie wir bereits aus der Keimesgeschichte des
Menschen wissen, das Märkrohr aus dem Hautblatt. Diejenigen
Organe unseres Körpers, welche die vollkommensten Funktionen
des Tierleibes vermitteln: die Funktionen des Empfindens, des
Wollens, des Denkens — mit einem Worte die Or g ane der
Ps y che , des Se e lenlebens — entwickeln sich aus der
äuße ren Hautbede ckung .
Diese merkwürdige Tatsache erscheint, für sich allein betrachtet,
so wunderbar,, unerklärlich und paradox, daß man sie
lange £feit hindurch zu leugnen versuchte. Den zuverlässigsten
embryologischen Beobachtungen entgegen stellte man die falsche
Behauptung auf, daß sich das Zentralnervensystem nicht aus dem
äußersten Keimblatte, sondern aus einer besonderen, darunter
gelegenen Zellenschicht entwickele. Indessen ließ sich' die onto-
genetische Tatsache nicht wegbringen, und jetzt, wo wir sie im
Lichte der Stammesgeschichte betrachten, erscheint sie uns gerade
umgekehrt als ein ganz natürlicher und notwendiger Vorgang.
Wenn man nämlich über die historische Entwickelung der Seelen-
und Sinnestätigkeiten nachdenkt, so muß man notwendig zu der
Vorstellung kommen, daß die denselben dienenden Zellen ursprünglich
an der äußeren Oberfläche des Tierkörpers gelegen haben
müssen. Nur solche äußerlich gelegene Elementarorgane konnten
die Eindrücke der Außenwelt unmittelbar aufnehmen und vermitteln.
Später zog sich dann allmählich unter dem Einflüsse der
natürlichen Züchtung derjenige Zellenkomplex der Haut, der
vorzugsweise „empfindlich“ wurde, in das geschütztere Innere
des Körpers zurück und bildete hier die erste Grundlage eines
nervösen Zentralorgans. Infolge weiterer Sonderung wurde dann
die Differenz und der Abstand zwischen der äußeren Hautdecke
und dem davon abgeschnürten Zentralnervensystem immer größer,
und endlich standen beide nur noch durch die leitenden peripherischen
Empfindungsnerven in bleibender Verbindung.
Mit dieser Auffassung steht auch der vergleichend-anatomische
Befund in vollständig befriedigendem Einklang. Die vergleichende
Anatomie lehrt uns, daß sehr viele niedere Tiere noch kein Nervensystem
besitzen, trotzdem sie die Funktionen des Empfindens und
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