
In den verschiedenen Ordnungen der Deciduaten ist sowohl
die äußere Form als die innere Struktur der Placenta mannigfach
verschieden. Die ausgedehnten Untersuchungen der letzten zehn
Jahre haben ergeben, daß in diesen Beziehungen eine viel größere
Mannigfaltigkeit unter den höheren Säugetieren existiert, als man
früher annahm. Die physiologische Aufgabe dieses wichtigen
Embryorgans, die zweckmäßigste Ernährung der lange Zeit im
Mutterleibe verweilenden Frucht, wird in den verschiedenen
Gruppen der Zottentiere durch vielfach abweichende, oft höchst
verwickelte anatomische Einrichtungen erreicht. Eine ausführliche
Zusammenstellung derselben hat neuerdings Hans Strahl gegeben.
Die P h y l o g e n i e der P la c en t a ist uns jetzt dadurch verständlicher
geworden, daß zwischen den verschiedenen Formen
derselben interessante Uebergangsformen nachgewiesen worden
sind. Einzelne Beuteltiere (Perameles) beginnen bereits eine kleine
Placenta zu bilden. Bei einzelnen Halbaffen (Tarsius) entwickelt
sich bereits eine scheibenförmige Placenta mit Decidua. Auf Grund
dieser neueren Forschungen habe ich in der nachstehenden
XXXV. Tabelle acht verschiedene Stufen in der Stammesgeschichte
der menschlichen Placenta unterschieden. Das wichtigste Ergebnis
derselben haben wir bereits früher (im XV. Vortrage) hervorgehoben:
die besonderen Eigentümlichkeiten, durch die sich die scheibenförmige
Placenta des Menschen auszeichnet, die Bildung der
Decidua reflexa (auch D. circumvallata oder D. capsularis genannt),
ferner die Entstehung des Nabelstranges aus dem „Bauchstiel“
u. s. w., teilt der Mensch mit den Menschenaffen, während
sie den niederen Affen fehlen (vergl. S. 401—409).
Während uns so die wichtigen Ergebnisse der vergleichenden
Keimesgeschichte in den letzten Jahren über die nahe Blutsverwandtschaft
des Menschen und der Menschenaffen aufgeklärt
haben (S. 420), sind gleichzeitig durch die überraschenden Fortschritte
der Paläontologie tiefere Einblicke in die Stammesgeschichte
der großen Placentalien-Gruppe gewonnen worden. Im siebenten
Kapitel meiner „Systematischen Phylogenie der Wirbeltiere“ (1895,
S. 419— 633) habe ich die Hypothese zu begründen versucht, daß
alle Zottentiere einen einzigen vielverzweigten Stamm darstellen,
welcher aus einer älteren Gruppe der Beuteltiere (Prodidelphia)
hervor gegangen ist.. Die vier großen Legionen der Placentalien:
1) Nagetiere (Rodentia), 2) Huftiere (Ungulata), 3) , Raubtiere
(Carnassia) und~4) Herrentiere (Primates), erscheinen in der
Gegenwart durch wichtige Merkmale ihrer Organisation scharf
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Fünfunddreissigste Tabel le.
Uebersicht über die Phylogenie. der menschlichen Placenta.
(Acht verschiedene Bildungsstufen.)
Vergl.'hierüber: Hans S tra h l, 1902. Die Embryonalhüilen der Säuger und die Placenta
(in: Oscar H ertw ig, Handbuch der Entwickelungslehre, III. Heft, 1902).
I. und n . Stufe: Niedere Säugetiere.
V . und VI . Stufe: Niedere Primaten.
III. und IV . Stufe: Halbaffen (Lemuren).
VI I. und VIH. Stufe: Höhere Primaten.
I. Stufe: Monotrema.
(Echidna, Ornithorhynchus.)
Eierlegende älteste Säugetiere, ohne
Placenta.
I. Implacentalia ovipara.
Die Allantois bleibt ein freier, mit Flüssigkeit
gefüllter Harasack wie bei den
Sauropsiden (Reptilien).
II. Stufe: Marsupialia.
Die meisten lebenden Beuteltiere.
Lebendig gebärende, ältere Säugetiere,
ohne Placenta.
II. Implacentalia vivipara.
Die Allantois bleibt frei, wie bei den
Monotremen und Sauropsiden.
TTT- Stufe: Peramelida.
(Perameles, Dasyurus.)
Ein Teil der Raubbeuteltiere.
HI. Semiplacenta avillosa.
Die Allantois verwächst in einem Bezirke
mit der Uteruswand (ohne Chorionzotten)
und bildet den ersten Anfang einer
Placenta. Keine Decidua.
“ IV . Stufe: Prosimiae.
Die meisten Halbaffen, die meisten
Huftiere und Cetaceen (Lemur, Galago,
. Schwein, Pferd, Delphin etc.).
IV . Semiplacenta villosa.
(Malloplacenta.)
Die Allantois wächst in die zahlreichen
überall zerstreuten Zotten des Chorion
hinein. Keine Decidua.
V . Stufe: Tarsiadae.
Einzelne Halbaffen (Tarsius).
Einzelne Insektenfresser (Centetes).
V . Discoplacenta primitiva.
Die Allantois beginnt eine scheibenförmige
Placenta mit Decidua zu bilden.
V I . Stufe: Platyrrhinae.
Amerikanische Affen (Westaffen)
(und wahrscheinlich alle alttertiären,
eocaenen Affen).
V I . Discoplacenta dysmopitheca.
Die Allantois bildet eine scheibenförmige
Placenta mit Decidua, die weiter fortgeschritten
ist.
VI I . Stufe: Cynopitheca.
Hundsaffen (die geschwänzten Affen der
alten Welt, Ostaffen).
VTTT. Stufe: Anthropomorpha.
D i e Me ns c he na f f en (Hyhdates,
Satyrus, Anthropithecus, G orilla) und
der Mensch (Homo).
VI I . Discoplacenta cynopitheca.
Die Allantois bildet eine doppelte Placenta,
eine größere dorsale (primäre) und eine
kleinere ventrale (sekundäre).
VI II . Discoplacenta anthropoides.
Die Allantois bildet keine Blase, sondern
im Basalteil einen soliden Bauchstiel, im
Außenteil eine Decidua capsularis (oder
D. reflexa).