
vornherein sehr unwahrscheinlich. Andere nahmen an, daß sich
der Mantel aus Zellen entwickele, welche sich noch vor der Befruchtung
der Eizelle aus dem äußeren Teile des Eidotters bilden
und ganz von dem inneren Teile desselben ablösen sollten. Auch
das wäre ganz rätselhaft und unwahrscheinlich. Erst die Untersuchungen
von Hertwig; die ich aus eigener Anschauung bestätigen
kann, haben gezeigt, daß sich der Mantel in Form einer sogenannten
Cuticula entwickelt. Er ist eine Ausschwitzung der Epidermis-
zeUen, welche alsbald erhärtet, sich von dem eigentlichen Ascidien-
körper sondert und üm denselben zu einer festen Hülle verdichtet.
Die Substanz derselben ist in chemischer Beziehung nicht von
Pflanzencellulose zu unterscheiden. Während die Oberhautzellen
der äußeren Hornplatte diese Cellulosemasse absondern, schlüpfen
einzelne von ihnen in die letztere hinein, leben in der ausgeschwitzten
Masse selbständig fort und helfen den Mantel weiterbilden. So
entsteht schließlich die mächtige äußere Hülle, die immer dicker
und dicker wird und bei manchen ausgebildeten Ascidien mehr
als zwei Drittel der ganzen Körpermasse ausmacht81).
Die weitere Entwickelung der Ascidie im einzelnen ist für
uns von keiner besonderen Bedeutung, und wir wollen sie daher
nicht weiter verfolgen. Das wichtigste Resultat, welches wir aus
der Ontogenese derselben erhalten, ist die völlige Uebereinstimmung
mit derjenigen des Amphioxus in den frühesten und wichtigsten
Stadien der Keimesgeschichte. Erst nachdem Markrohr und Darmrohr,
und zwischen beiden der Achsenstab nebst den Muskeln
gebildet ist, scheiden sich die Wege der Entwickelung. Der
Amphioxus verfolgt einen fortschreitenden Entwickelungsgang und
wird den Keimformen der höheren Wirbeltiere ähnlich, während
die Ascidie umgekehrt eine rückschreitende Metamorphose einschlägt,
und schließlich im ausgebildeten Zustande als ein sehr
unvollkommenes wirbelloses Tier erscheint.
Wenn Sie nun nochmals einen Rückblick auf alle die, merkwürdigen
Verhältnisse werfen, welche wir sowohl im Körperbau
als in der Keimesgeschichte des Amphioxus und der Ascidie angetroffen
haben, und wenn Sie dann dieselben mit den früher
verfolgten Verhältnissen der menschlichen Keimesgeschichte vergleichen,
so werden Sie die außerordentliche Bedeutung, welche
ich jenen beiden höchst interessanten Tierformen zugeschrieben
habe, gewiß nicht mehr übertrieben finden. Denn es liegt nun
klar vor Augen, daß der Amphioxus von seiten der Wi rbe l t i e r e ,
die Ascidie von seiten der Wi rbe l lo s en die verbindende Brücke
schlägt, durch welche wir allein im stände sind, die tiefe Kluft
zwischen jenen beiden Hauptabteilungen des Tierreichs auszufüllen.
Die fundamentale Uebereinstimmung, welche das Lanzettierchen
und die Seescheide' in den ersten und wichtigsten Verhältnissen
ihrer Keimesentwickelung darbieten, bezeugt nicht allein ihre nahe
anatomische Formverwandtschaft und ihre Zusammengehörigkeit
im System; sie bezeugt vielmehr zugleich auch ihre wahre Blutsverwandtschaft
und ihren gemeinsamen Ursprung von einer und
derselben Stammform; sie wirft dadurch zugleich das klarste Licht
auf die ältesten Wurzeln des menschlichen Stammbaumes.
In einigen früheren Vorträgen „über die Entstehung und den
Stammbaum des Menschengeschlechts“ (1868) hatte ich auf die
außerordentliche Bedeutung jenes Verhältnisses hingewiesen und
dabei geäußert, daß wir demgemäß „den Amphioxus mit besonderer
Ehrfurcht als dasjenige ehrwürdige Tier betrachten müssen, welches
unter allen noch lebenden Tieren allein im stände ist, uns eine
annähernde Vorstellung von unseren ältesten silurischen Wirbeltierahnen
zu geben“. Dieser Satz hat nicht allein bei unwissenden
Theologen, sondern auch bei vielen anderen Menschen den größten
Anstoß erregt, namentlich bei solchen Philosophen, welche noch
in dem anthropozentrischen Irrtume leben und den Menschen als
vorbedachtes Ziel der „Schöpfung“ und wahren Endzweck alles
Erdenlebens betrachten. Die „Würde der Menschheit“ sollte durch
jenen Satz „mit Füßen getreten und das göttliche Vernunftbewußtsein
des Menschen aufs schwerste beleidigt sein“. (Kirchenzeitung!)
Diese Entrüstung über meine aufrichtige und hohe Verehrung
des Amphioxus ist mir, offen gestanden, vollkommen unbegreiflich.
Wenn wir einen uralten Eichenhain betreten und dann unserer
Ehrfurcht vor den ehrwürdigen tausendjährigen Bäumen in begeisterten
Worten Ausdruck geben, so findet dies jedermann ganz
natürlich. Wie erhaben steht aber der Amphioxus über der Eiche
da, und wie hoch steht selbst noch die Ascidienorganisation über
derselben! Und was sind die tausend Jahre eines ehrwürdigen
Eichenlebens gegen die vielen Millionen Jahre, deren Geschichte
uns der Amphioxus erzählt! Ganz abgesehen davon verdient der
altersgraue Lanzelot (trotz des Mangels von Schädel und Gliedmaßen
!) schon deshalb die höchste Ehrfurcht, weil er „Fleisch
von unserem Fleische und Blut von unserem Blute“ ist! Jedenfalls
verdiente der Amp h io x u s mehr Gegenstand der höchsten Bewunderung
und andächtigsten Verehrung zu sein, als alle das
unnütze Gesindel von sogenannten „He i l igen“, denen unsere