
Unvollständigkeit der Schöpfungsurkunden. X I X .
sind in hohem Maße unvollständig und werden immer unvollständig
bleiben; gerade so wie in der vergleichenden Sprachforschung.
Im höchsten Maße unvollständig ist vor allem die ursprünglichste
aller Schöpfungsurkunden, die P a l ä o n t o l o g i e . Wir
wissen, daß alle Versteinerungen, welche wir kennen, nur einen
verschwindend geringen Bruchteil von der Masse der Tierformen
und Pflanzenformen ausmachen, welche überhaupt gelebt haben.
Auf je eine uns in versteinertem Zustande erhaltene ausgestorbene
Art kommen wahrscheinlich Hunderte, vielleicht aber Tausende von
ausgestorbenen Arten, die uns keine Spur ihrer Existenz hinterlassen
haben. Diese außerordentliche und höchst bedauerliche Unvollständigkeit
der paläontologischen Schöpfungsurkunden, welche
nicht genug hervorgehoben werden-kann, ist ganz leicht erklärbar.
Durch die Verhältnisse, unter welchen die Versteinerung organischer
Resté vor sich geht, ist sie mit Notwendigkeit bedingt. Zum Teil
erklärt sie-sich auch aus unserer unvollkommenen Kenntnis dieses
Gebietes. Sie müssen bedenken, daß die große Mehrzahl aller
geschichteten Gesteine, welche die Gebirgsmassen unserer Erdrinde
zusammensetzen, uns noch gar nicht erschlossen ist. Von den zahllosen
Versteinerungen, welche in den ungeheuren Gebirgsketten von
Asien und Afrika verborgen sind, kennen wir erst kleine Proben.
Nur ein Teil von Europa und Nordamerika ist genauer erforscht.
Die Gesamtsumme der in unserer} Sammlungen vorhandenen und
uns genau bekannten Versteinerungen entspricht gewiß noch nicht
dem hundertsten Teile der Versteinerungen', die wirklich in unserer
Erdrinde verborgen sind. Wir können hier also in Zukunft noch
eine reiche Ernte von wichtigen Aufschlüssen -erwarten. Aber
trotzdem wird unsere paläontologische jächöpfungsurkunde . (aus
Gründen, welche ich im XVI. Vortrage meiner „Natürlichen
Schöpfungsgeschichte“ ausführlich erörtert habe) immer höchst
lückenhaft bleiben.
Nicht weniger unvollständig ist die zweite, höchst wichtige
Schöpfungsurkunde, diejenige der Or itögenie. Für die spezielle
Phylogenie ist sie die wichtigste von allen. Dennoch aber hat auch
sie ihre großen Mängel und läßt uns oft ganz ipi Stich. Hier
müssen wir vor allem scharf zwischen den pa l ing ene t i s chen
und c eno g ene t i s ch en Erscheinungen unterscheiden, zwischen
dem ursprünglichen „Entwickelungs - A u s z u g“ und der späteren
„Entwickelungs - S t ö r u n gV Wir dürfen nie vergessen, daß die
Gesetze der abgekürzten und der gestörten Vererbung den ursprünglichen
Entwickelungsgang vielfach bis zur Unkenntlichkeit
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verdecken. Nur in seltenen Fällen ist die Rekapitulation der Phylogenie
durch die Ontogenie ziemlich vollständig, niemals aber
ganz komplett. Meistens sind gerade die frühesten und wichtigsten
Stadien der Keimesgeschichte stark abgekürzt und zusammengezogen.
Die jugendlichen Entwickelungsformen haben sich selbst
vielfach neuen Verhältnissen an gepaßt und sind dadurch verändert
worden. Der Kampf ums Dasein hat auf die verschiedenen, frei
lebenden und noch unentwickelten Jügendformen ebenso mächtig
umbildend eingewirkt, wie auf die entwickelten und reifen Formen.
Daher wird namentlich bei der Keimung der höheren Tierformen
die Palingenese durch die Cenogenese sehr bedeutend eingeschränkt;
hier liegt gewöhnlich heutzutage nur noch ein ganz
verwischtes und vielfach gestörtes Bild der ursprünglichen Ent-
wickelungsweiSe ihrer Vorfahren vor uns. Nur mit großer-Vorsicht
und Kritik dürfen wir aus ihrer Keimesgeschichte direkt
auf ihre Stammesgeschichte schließen. Außerdem ist uns auch
die Keimesgeschichte selbst erst bei sehr wenigen Arten bis jetzt
vollständig bekannt
Endlich ist auch leider die höchst wichtige Schöpfungsurkunde
der verglei chenden Ana tomie sehr unvollständig, und zwar
aus dem- einfachen Grunde, weil überhaupt die sämtlichen gegenwärtig
lebenden Tierarten nur einen sehr kleinen Bruchteil von
der ganzen Masse verschiedener Tierformen bilden, welche von
Anbeginn der organischen Erdgeschichte bis zur Gegenwart gelebt
haben. Die Gesamtzahl dieser letzteren können wir sicher auf
mehr als eine Million Species schätzen. Die Zahl derjenigen Tiere,
deren Organisation die vergleichende Anatomie heute bereits genauer
erforscht hat, ist im Verhältnis dazu sehr gering. Auch
hier wird uns die ausgedehntere Forschung der Zukunft noch ungeahnte
Schätze offenbaren.
Angesichts dieser offenkundigen Unvollständigkeit unserer
wichtigsten Schöpfungsurkunden müssen wir uns natürlich wohl
hüten, in der Stammesgeschichte des Menschen zu großes Gewicht
auf einzelne bekannte Tierformen zu legen und alle in Betracht
zu ziehenden Entwickelungsstufen mit gleicher Sicherheit als
Stammformen zu betrachten. Vielmehr werden wir bei hypothetischer
Aufstellung unserer Ahnenreihe stets wohl zu berücksichtigen
haben, daß die einzelnen hypothetischen Stammformen
unter sich einen sehr verschiedenen Wert bezüglich der
Sicherheit unserer Erkenntnis besitzen. Sie werden schon aus
dem Wenigen, was wir gelegentlich der Ontogenesis über die
H a e ck e l, Anthropogenie. 5. Aufl. 34