
im übrigen die Organisation der Gliedertiere und Wirbeltiere
die größten Gegensätze darbietet. Wir haben darauf schon im
XIV. Vortrage hingewiesen (S. 350). Es ist daher weder anzunehmen,
daß die Wirbeltiere von Gliedertieren abstammen, noch
umgekehrt, daß die ersteren Ahnen der letzteren sind. Beide
große Stämme haben sich unabhängig voneinander historisch entwickelt
und sind ursprünglich ebenso aus verschiedenen Stammformen
hervorgegangen, wie sie noch heute ganz verschiedene
Keimformen zeigen. Die beständige Anwesenheit der Chordula
bei allen Wirbeltieren ist ebenso charakteristisch, wie ihre vollständige
Abwesenheit bei allen Gliedertieren.
D ie Abstammung der Wirbelt i e re von den Gl iedert
ieren ist im Laufe der letzten dreißig Jahre von zahlreichen
Zoologen mit ebenso vielem Eifer als Kritikmangel verteidigt
worden; und da sich über diese Streitfrage eine umfangreiche
Literatur entwickelt hat, müssen wir derselben hier eine kurze
Erwähnung widmen. Alle drei Hauptklassen der Gliedertiere sind
nacheinander zu der Ehre gelangt, als die „wahren Vorfahren“
der Wirbeltiere angesehen zu werden; zuerst die Ringelwürmer
oder Anne l id en (RegenWürmer, Blutegel und Verwandte)"; dann
die Krustentiere oder Crus tac een (Schildtiere' und Krebstiere);
endlich die Luftrohrtiere oder Tr a che a t en (Spinnen, Insekten
u. a.). Das meiste Ansehen unter den verschiedenen, hier aufgestellten
Hypothesen gewann die „Anne l id en-The o r i e “, die
Ableitung der Wirbeltiere von Ringelwürmern. Dieselbe wurde
fast gleichzeitig (1875) von Carl Semper in Würzburg und von
Anton Dohm in Neapel aufgestellt. Der letztere begründete diese
Hypothese ursprünglich zu Gunsten der damals auftauchenden
Degenerations-Theorie, welche ich in meiner Schrift über „Ziele
und Wege der heutigen Entwickelungsgeschichte“ kritisch beleuchtet
habe (Jena, 1875, - S. 87).
Die interessante „De gene ra t ions -Theor ie “ — damals viel
besprochen und heute schon fast vergessen — entstand 1875 aus
dem Bestreben, die Ergebnisse der Descendenztheorie und des
unaufhaltsam vordringenden Darwinismus mit den Gemütsbedürfnissen
des religiösen Glaubens und mit der anthropozentrischen
Weltanschauung in Einklang zu bringen. Der heftige Kampf,
den 1859 Darwin durch seine Neubegründung der Abstammungslehre
hervorgerufen hatte, und der ein Decennium hindurch mit
wechselndem Erfolge im Gesamtgebiete der Biologie tobte, neigte
schon in den Jahren 1870—72 seinem Ende zu und schloß bald
ab mit einem vollständigen Siege des Transformismus. Der großen
Mehrzahl der Streiter war dabei im Grunde nicht diese allgemeine
Entwickelungsfrage die Hauptsache, sondern die besondere Frage
von „der Stellung des Menschen in der Natur“ — diese „Frage
aller Fragen“, wie sie Huxley mit Recht nennt. Den meisten
unbefangenen und klar denkenden Köpfen mußte alsbald klar
werden, daß diese Frage. nur im Sinne unserer „Anthropogenie“
erledigt werden könne, durch die Annahme, daß der Mensch aus
einer langen R.eihe von \\"irbell.iercn durch allmähliche Umbildung
und Vervollkommnung hervorgegangen sei.
Somit wurde denn die wahre Stammv e rwand t s cha f t des
Menschen und der Wirbeltiere bald allseitig zugegeben. Vergleichende
Anatomie und Ontogenie sprachen zu deutlich, um sie
länger noch leugnen zu können. Um nun aber trotzdem die
anthropozentrische Stellung des Menschen zu retten, und vor allem
das Dogma der „persönlichen Unsterblichkeit aufrecht zu erhalten,
erfanden mehrere Naturphilosophen und genetisch denkende
Theologen den vortrefflichen Ausweg der „Degenerations-Theorie“.
Jene wahre Stammverwandtschaft zugebend, stellten sie die ganze
Descendenzreihe einfach auf den Kopf und verteidigten mit anerkennenswerter
Tapferkeit den Grundsatz: „der Mensch ist nicht
das höchst entwickelte Tier, sondern die Tiere sind herabgekommene
Menschen.“ Allerdings ist der Mensch ,;des ^ Affen
nächster Verwandter“ und vom Stamme der Wirbeltiere nicht zu
trennen; aber die Stufenfolge in seiner Ahnenreihe ist keine aufsteigende,
sondern eine absteigende. Ursprünglich „schuf Gott den
Menschen nach seinem Bilde“, als den Urtypus des vollkommenen
Wirbeltieres; erst infolge des Sündenfalles kam das Menschengeschlecht
so herunter, daß daraus die Affen entstanden und aus
diesen weiterhin die niederen Wirbeltiere. Bei konsequenter Ausführung
dieser „Entartungslehre“ mußte man dann zu der einheitlichen
Annahme gelangen, daß das ganze Tierreich aus
herabgekommenen und entarteten Menschenkindern hervorgegangen
sei.'
Am entschiedensten und mutigsten vertrat diese Degenerations-
Theorie der katholische Priester und Naturphilosoph Michelis in
seiner Streitschrift: „.Haeckelogonie, ein akademischer Protest gegen
Haeckels Anthropogenie“ (Bonn 1875). In mehr „akademischer“
und zum Teil mystischer Form führte dieselbe ein Naturphilosoph
der älteren Jenaer Schule aus, der Mathematiker und Physiker
Carl Snell. Die kräftigste Unterstützung von zoologischer Seite
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