
aber erhielt sie durch Anton Dohm, der die anthropozentrischen
Ideen des letzteren mit besonderem Geschick und Talent vertrat.
Der Amphioxus, den die neuere Morphologie jetzt fast allgemein
als das wahre „Urwirbeltier“ betrachtet, als das uralte typische
Paradigma der ursprünglichen Vertebratenstruktur, ist nach Dohm
vielmehr umgekehrt als ein später, entarteter Nachkomme dieses
Stammes zu betrachten, als „der verlorene Sohn der Wirbeltiere“.
Er ist durch weitgehende Rückbildung ebenso aus den Cyclostomen
hervorgegangen, wie' diese aus den Fischen; ja sogar die Ascidien,
und überhaupt sämtliche Tunicaten sind weiter nichts als solche
gänzlich herabgekommene Fische! Infolge richtiger Weiterbildung
dieser umgestülpten Abstammungslehre bekämpft Dohm dann auch
die allgemein gültige Annahme, daß Coelenteraten und Würmer
„niedere Tiere“ seien; ja sogar die einzelligen Protozoen erklärt
er für degenerierte Coelenteraten. Ueberhaupt ist nach ihm „die
De g ene r a t ion das Pr inc ipium mo-v-ens, das für die
Existenz all der niederen Formen verantwortlich ist“.
Wenn wirklich diese Michelis-Dohrnsche Degenerations-Theorie
wahr wäre, und alle Tiere demnach als entartete Nachkommen
des ursprünglich vollkommen erschaffenen Menschen anzusehen
wären, dann würde damit in der Tat der Mensch — „desjpersön-
lichen Gottes Ebenbild“ ’§§- als der wahre Mittelpunkt und Endzweck
alles organischen Erdenlebens erscheinen; seine anthropozentrische
Stellung und damit vielleicht auch die „Unsterblichkeit
der Person“ wäre gerettet, Leider steht diese -trostreiche Entartungslehre
nur in so unvereinbarem Widerspruch mit allen bekannten
Tatsachen der Paläontologie und Ontogenie, daß sie
einer ernstlichen Widerlegung in wissenschaftlichen Kreisen heute
nicht mehr bedarf.
Nicht besser aber steht .es mit der vielbesprochenen Abstammung
der Wirbeltiere von den Ringelwürmern, welche Dohm
später mit besonderem Eifer verteidigt, hat. Außer ihm hat
namentlich Carl Semper in Würzburg diese „Anneliden-Hypothese“
zu stützen versucht und dabei ebenso viel anspruchsvollen Dogmatismus
als mangelhafte Logik und seltenen Kritikmangel bewiesen.
Im Grunde ist dieselbe weiter nichts als die aufgewärmte
und phylogenetisch zugestutzte Lehre der älteren Naturphilosophie,
daß die Insekten auf dem Rücken laufende Wirbeltiere seien, und
daß das Rückenmark der letzteren dem Bauchmark der ersteren
entspreche. Wie unkritisch und unwissenschaftlich diese Vergleichung
ist, zeigte alsbald der erste unter den vergleichenden
Anatomen der Gegenwart. In der meisterhaften Abhandlung über
„Die Stellung und Bedeutung der Morphologie“, mit welcher
"Carl Gegenbaur 1876 den ersten Band seines „Morphologischen
Jahrbuches“ eröffnetfe (S. 6), bespricht er jene falsche Hypothese
als „ein eklatantes Beispiel unwissenschaftlicher Vergleichung
und sagt von ihr mit vollem Rechte: „Sie ignoriert die wichtigsten
Instanzen, indem sie nur ganz allgemeine und für den besonderen
Fall unwesentliche Dinge als ausschlaggebend betrachtet Eine
solche unwissenschaftliche Vergleichung wandelt wie in einem
Labyrinthe, in dem an den ersten Irrweg nur neue sich anreihen.
In neuester Zeit ist die berühmte „Anneliden-Hypothese“, die
so viel Staub aufgewirbelt und so zahlreiche Streitschriften im Gebiete
der Morphologie hervorgerufen hat, von den meisten urteilsfähigen
Zoologen aufgegeben worden, auch .von solchen, die sie
früher verteidigten. Die unschätzbaren Aufschlüsse, welche uns
Hatschek, Boveri u. a. über die Morphologie des Amphioxus gegeben
haben, sowie die Erkenntnis seiner nahen Beziehungen zu
den Selachier-Embryonen (Rückert), haben ihr den letzten Boden
entzogen. Ja selbst ihr eifrigster Förderer, Dohm, gestand bereits
x8go ein, daß sie „für alle Zeit begraben sein wird“, und trat am
Ende seiner XV.. „Studie zur Urgeschichte des Wirbeltierkörpers
einen verschämten Rückzug äh. .
Nachdem die falsche, 1875 auf gestellte An ne l id en-Hyp o -
th ese „wohl für alle Zeit begraben“ ist und auch andere neuere
Versuche, die Wirbeltiere von Medusen, Echinodermen oder
Mollusken abzuleiten, gänzlich gescheitert sind, bleibt zur Beantwortung
jener großen Frage „vom Ursprung der Wirbeltiere
nur jene ältere Hypothese übrig, die ich schon seit 36 Jahren
vertreten und im Gegensätze zu jener kurz die Chordonier -
Hypo the s e genannt habe; wegen ihrer sicheren morphologischen
Begründung und ihrer grundlegenden Bedeutung darf sie wohl
auf den Rang einer naturgemäßen phylogenetischen Theo r ie
Anspruch machen und darf als die „Chordonier-Theorie“ oder auch
„Chordaea-Theorie“ bezeichnet werden.
Ich habe diese Cho rda e a -Theo r ie zuerst im Jahre 1867
in akademischen Vorträgen entwickelt, aus denen die „Natürliche
Schöpfungsgeschichte“ hervorging. In der ersten Auflage dieses
Buches (1868, S. 409, 439. 5°4) suchteich, gestützt auf die epochemachenden
Entdeckungen von Kowalevsky, den Beweis zu führen,
daß „unter allen uns bekannten wirbellosen Tieren zweifelsohne die
Manteltiere die nächste Blutsverwandtschaft mit den Wirbeltieren