
Wenn wir nun so durch die vergleichende Anatomie erfahren,
daß das Skelett der Gliedmaßen beim Menschen ganz aus denselben
Knochen in derselben Weise zusammengesetzt ist, wie das Skelett
in den vier höheren Wirbeltierklassen, so werden wir schon daraus
auf eine gemeinsame Descendenz derselben von einer einzigen
Stammform schließen dürfen. Diese Stammform war das älteste
Amphibium, welches vorn und hinten fünf Zehen an jedem
Fuße besaß. Allerdings ist besonders der äußerste Abschnitt der
Gliedmaßen durch Anpassung an verschiedene Lebensbedingungen
merkwürdig umgebildet. Denken Sie nur daran, welche Verschiedenheiten
derselbe innerhalb der Säugetierklasse darbietet. Da stehen
sich gegenüber die schlanken Beine des flüchtigen Hirsches und
die starken Springbeine des Känguruh, die Kletterfüße des Faultieres
und die Grabschaufeln des Maulwurfes, die Ruderflossen
des Walfisches und die Flügel der Fledermaus. Gewiß wird jeder
zugestehen, daß diese Lokomotionsorgane in Bezug auf Größe, Form
und spezielle Funktion so verschieden sind, als sie nur gedacht
werden können. Und doch ist das innere Knochengerüst in allen
wesentlich dasselbe. Doch finden wir in allen diesen verschiedenen
Beinen immer dieselben charakteristischen Knochen in derselben
wesentlichen, streng erblichen Verbindung wieder: ein Beweis für
die Descendenztheorie, wie ihn die vergleichende Anatomie an einem
anderen Organe kaum glänzender liefern kann. (Vergl. Taf. XXVIII
und XXIX, S. 792; sowie ihre Erklärung im Anhang.) Allerdings
erleidet das Skelett in den Gliedmaßen der verschiedenen Säugetiere
außer den speziellen Anpassungen auch vielfache Verkümmerungen
und Rückbildungen (Fig. 412). So finden wir schon in dem Vorderfuß
(oder der Hand) des Hundes (77) die erste Zehe oder den
Daumen rückgebildet. Beim Schwein (777) und beim Tapir (F) ist
dieselbe ganz verschwunden. Bei den Wiederkäuern (z. B. beim
Binde Fig. IV) sind auch die zweite und fünfte Zehe außerdem
rückgebildet und nur die dritte und vierte gut entwickelt. Beim
Pferde endlich ist gar nur eine einzige (die dritte) Zehe vollständig
ausgebildet (Fig. VI, 3). Und doch sind alle diese verschiedenen
Vorderfüße, ebenso wie die Hand des Affen (Fig. 410)
und des Menschen (Fig. 411), aus derselben, gemeinsamen, fünfzehigen
Stammform ursprünglich entstanden. Das beweisen sowohl
die Rudimente der verkümmerten Zehen, als auch die gleichartige
Anordnung der Handwurzelknochen bei allen Pentanomen
(Fig. 412 a—-p). Vergl. hierzu die Carpomelen auf Taf. XXVIII
und die Tarsomelen auf Taf. XXIX, sowie oben S. 61g.
Vergleichen wir unbefangen das Knochengerüst von Arm
und Hand des Menschen mit demjenigen der nächst verwandten
Menschenaffen, so ergibt sich eine fast vollkommene Ueberein-
stimmung. Insbesondere gilt das vom Schimpanse. In Bezug auf
die Proportionen einzelner Teile stehen die niedrigsten Menschenrassen
der Gegenwart (Weddas von Ceylon, Fig. 414) in der Mitte
zwischen dem Schimpanse (Fig. 413) und dem Europäer, Fig. 415 )•
Viel bedeutender sind die Unterschiede in der Bildung und den
Proportionen derselben Teile zwischen den einzelnen Gattungen der
Menschenaffen (Fig. 333— 337 S. 672); und noch viel größer ist der
Fie. 4 12 . Skelett der Hand oder des Vorderfußes yon sechs S a u g e -
t ie r en :g/.4Mensch, II. Hund, I I I . Schwein, IV . Rind, V. Tapir, VI. | 3£ l S f f l | B l l i i
u Ulna, a Scaphoideum, b Lunare, c Triquetrum, d Trapezium e Trapezoid,, ƒ Capitata ,
g TT-m-him, f Pisiforme. I. Daumen, 2 . Zeigefinger, 3. Mittelfinger, 4 . Ringfinger,
5. Kleinfinger. Nach Gegenbaur.
morphologische Abstand zwischen diesen letzteren und den niederen
Affen (Hundsaffen, Cynopitheca). Auch hier wieder bestätigt unbefangene
und eingehende anatomische Vergleichung die Richtigkeit
des Pithecometra-Satzes von Huxley (S. 420).
Die durchgehende Einhe i t der Bi ldung, welche uns so die
vergleichende Anatomie der Gliedmaßen offenbart, findet ihre volle
Bestätigung in deren Ke im es g e s chieht e. Diese ist nicht nur
bei allen Säugetieren, sondern überhaupt bei allen Te t r apoden
oder pentanomen Vertebraten, von den ältesten Amphibien bis
zum Menschen aufwärts, ursprünglich ganz dieselbe.
*) Vergl. das schöne Werk von P a u l Sarasin und F r itz Sarasin: „Ergebnisse
naturwissenschaftlicher Forschungen auf Ceylon“ (Bd. III, 1892).