„Be f ruchtung “ (Fecundatio), den wir im VII. Vortrage näher
untersucht haben (vergl. Fig. 23-329, S. 145 ff.).
Durch diese einfachsten Vorgänge der geschlechtlichen Fortpflanzung,
wie sie bei den niedersten Pflanzentieren, bei den
Gastraeaden, Schwämmen und Polypen, noch heute zu beobachten
sind, werden wir mit mehreren bedeutungsvollen Erkenntnissen
bereichert. Er s tens erfahren wir dadurch, daß für die geschlechtliche
Fortpflanzung eigentlich weiter nichts erforderlich ist, als die
Verschmelzung oder Verwachsung von zwei verschiedenen Zellen,
einer we ib l i chen Ei z e l l e und einer männl i chen Spe rma zel
le. Alle anderen Verhältnisse und alle die übrigen, höchst
zusammengesetzten Erscheinungen, welche bei den höheren Tieren
den geschlechtlichen Zeugungsakt begleiten, sind von untergeordneter
und sekundärer Natur, sind erst nachträglich zu jenem
einfachsten, primären Kopulations- und Befruchtungsprozeß hinzugetreten.
Wenn wir aber nun bedenken, welche außerordentlich
wichtige Rolle das Verhältnis der beiden Geschlechter überall in
der organischen Natur, im Pflanzenreiche, wie im Tier- und
Menschenleben spielt, wie die gegenseitige Neigung und Anziehung
beider Geschlechter, die Liebe , die Triebfeder der
mannigfaltigsten und merkwürdigsten Vorgänge, ja eine der
wichtigsten mechanischen Ursachen der höchsten Lebensentwickelung
überhaupt ist, so werden wir diese Zurückführung der Liebe
auf ihre Urquelle, auf die Anziehungskraft zweier -e roti scher
Ze l len, gar nicht hoch genug anschlagen können.
Ueberall in der lebendigen Natur gehen von dieser kleinsten
Ursache die größten Wirkungen aus. Denken Sie allein an die
Rolle/ welche die Blumen, die Geschlechtsorgane der Blütenpflanzen,
in der Natur spielen; oder denken Sie an die Fülle von
Wunderbaren Erscheinungen, welche die geschlechtliche Zuchtwahl
im Tierleben bewirkt; denken Sie endlich an die folgenschwere
Bedeutung, welche die Liebe im Menschenleben besitzt: überall
ist die Verwachsung zweier Zellen das einzige, ursprünglich
treibende Motiv; überall übt dieser unscheinbare Vorgang den
größten Einfluß auf die Entwickelung der mannigfaltigsten Verhältnisse
aus. Wir dürfen wohl behaupten, daß kein anderer
organischer Prozeß diesem an Umfang und Intensität der differenzierenden
Wirkung nur entfernt an die Seite zu stellen ist. Denn
ist nicht der semitische Mythus von der Eva, die den Adam zur
„Erkenntnis“ verführte, und ist nicht die altgriechische Sage von
Paris und Helena, und sind nicht so viele andere berühmte
Dichtungen bloß der poetische Ausdruck des unermeßlichen Einflusses,
welchen die Liebe und die davon abhängige „s exuel le
S e l e k t ion “ 86) seit der Differenzierung der beiden Geschlechter
auf den Gang der Weltgeschichte ausgeübt hat? Alle anderen
Leidenschaften, die sonst noch die Menschenbrust durchtoben,
sind in ihrer Gesamtwirkung nicht entfernt so mächtig, wie der
sinnentflammende und vernunftbetörende Eros. Auf der einen
Seite verherrlichen wir die Liebe dankbar als die Quelle ‘ der herrlichsten
Kunsterzeugnisse: der erhabensten Schöpfungen der
Poesie, der bildenden Kunst und der Tonkunst; wir verehren in
ihr den mächtigsten Faktor der menschlichen Gesittung, die Grundlage
des Familienlebens und dadurch der Staatsentwickelung. Auf
der anderen Seite fürchten wir in ihr die verzehrende Flamme,
welche den Unglücklichen in das Verderben treibt, und welche
mehr Elend, Laster und Verbrechen verursacht hat, als alle anderen
Uebel des Menschengeschlechts zusammengenommen. So wunderbar
ist die Liebe und so unendlich bedeutungsvoll ihr Einfluß auf
das Seelenleben, auf die verschiedensten Funktionen des Markrohres,
daß gerade hier mehr als irgendwo die „übernatürliche“
Wirkung jeder natürlichen Erklärung zu spotten scheint. Und
doch führt uns trotz alledem die vergleichende Entwickelungsgeschichte
ganz klar und unzweifelhaft auf die älteste Quelle der
Liebe zurück: auf die Wa h l v e rwand t s ch a f t zweie r v e r s
chiedene r exot i s cher Zel l e n: Spe rma z e l le und E i zel
le (Erotischer Chemotropismus)m).
Wie uns die niedersten Metazoen über diesen einfachsten Ursprung
der verwickelten Fortpflanzungserscheinungen belehren, so
eröffnen sie uns zwei tens auch die wichtige Erkenntnis, daß
das älteste und ursprünglichste Geschlechtsverhältnis die Zwi t t
e rb i ld ung war, und daß aus dieser erst sekundär (durch Arbeitsteilung)
die Geschlechtstrennung hervorging. Die Zwi t t e r bi
ld ung (Hermaphrodismus) ist bei den niederen Tieren der
verschiedensten Gruppen vorherrschend; jedes einzelne geschlechtsreif
e Individuum, jede Per son, enthält hier weibliche und männliche
Geschlechtszellen, ist also fähig, sich selbst zu befruchten und
förtzupflanzen. So finden wir nicht allein bei den eben angeführten
niedersten Pflanzentieren (Gastraeaden, Schwämmen und vielen
Polypen), auf einer und derselben Person Eizellen und Samenzellen
vereinigt; sondern auch viele Würmer (z. B. die Blutegel und Regenwürmer),
viele Schnecken (die gewöhnlichen Garten- und Weinbergsschnecken),
sämtliche Manteltiere und viele andere wirbellose