
Die morphologische Uebereinstimmung in dem eigentümlichen
Bau des Kiemendarmes hei den Enteropneusten, Tunicaten und
Vertebraten ist zuerst von Gegenbaur erkannt worden (1878); sie
ist um so bedeutungsvoller, als in allen drei Gruppen zunächst
am jungen Tiere nur ein paar Ki emensp a l t en auftreten; erst
nachträglich wird ihre Zahl vermehrt. Wir dürfen daraus auf eine
gemeinsame Abstammung dieser drei Gruppen um so sicherer
schließen, als auch noch in anderen Beziehungen Balanoglossus sich
den Chordoniern auffallend nähert. So ist namentlich der Wichtigste
Teil des Zentralnervensystems ein langer dorsaler Nervenstrang,
der über dem Darm verläuft und dem Markrohr der Chordonier
entspricht. Bateson will sogar zwischen beiden eine rudimentäre
Chorda gefunden haben. Wir können die ganze Vorderhälfte des
Fig. 300. Querschnitt des Kiemendarms. A von Balanoglossus, B von
A scidia. r Kiemendarm, n Schlundrinne, * Bauchfalten zwischen beiden. Schematische
Darstellung nach Gegenbaur, um das Verhalten der dorsalen Kiemendarmhöhle (r) zur
Schlundrinne oder Hypobranchialrinne [n) zu zeigen.
Eichelwurmes (bis zum Ende des Kiemendarmes) als K o p f auffassen
(wie bei Amphioxus und den Copelaten) und ihr die Hinterhälfte
(mit einfachem Leberdarm) als Rump f gegenüberstellen.
Unter allen wirbellosen Tieren, die heute noch leben, stehen
die Enteropneusten durch diese bedeutungsvollen Eigentümlichkeiten
den Chordoniern am nächsten; sie dürfen daher als letztes
Ueberbleibsel jener uralten darmatmenden Vermalien-Gruppe betrachtet
werden, aus der auch die letzteren entsprungen sind.
Unter allen Chorda-Tie r en wiederum sind es die Copelaten
(Fig. 276, S. 490) und die geschwänzten Larven der Ascidien
(Fig. 5, Taf. XVIII), welche sich an den jungen Balanoglossus zunächst
anschließen. Beide sind andererseits auf das engste dem
Amphioxus verwandt, jenem uralten „Urwirbeltiere“, dessen hohe
Bedeutung für , die Stammesgeschichte unseres Geschlechts wir
bereits im XVI. und XVII. Vortrage erörtert haben. Wie dort
gezeigt wurde, sind die ungegliederten Mantel t ier e und die
gegliederten Wi rbe l t i e r e als zwei selbständige Stämme aufzufassen,
die sich nach ganz verschiedenen Richtungen hin divergent
entwickelt haben. Allein die gemeinsame Wurzel beider Stämme,
die ausgestorbene Gruppe der Pröchördonier, ist in .dem Stamme
der Vermalien zu suchen, und unter allen heute noch lebenden
Wurmtieren leiten uns allein die vorgenannten auf die Spur ihrer
Entstehung. Gewiß haben sich die heute noch lebenden Vertreter
jener wichtigen Tiergruppen, Copelaten, Balanoglossen, Nemertinen,
Ichthydinen u. s. w., durch An p a s su n g an ihre besonderen
Lebensbedingungen mehr oder weniger weit von dem Bilde der
ursprünglichen Stammgruppen entfernt. Aber ebenso gewiß dürfen
wir annehmen, daß sie bedeutungsvolle Grundzüge ihrer typischen
Organisation durch V e r e rb u n g bis heute konserviert haben.
Trotzdem müssen wir zugestehen, daß in der ganzen Stammesgeschichte
der Wirbeltiere die lange Wegstrecke von den Gastrae-
aden und Platoden aufwärts bis zu den ältesten Chordatieren der
weitaus dunkelste Abschnitt bleibt, und daß die wenigen angeführten
Zwischenformen zwischen jenen und diesen nur wie einzelne
zerstreute Laternen den langen dunkeln Weg mangelhaft beleuchten.
Man könnte auch noch eine andere Hypothese zur Aufhellung
desselben aufstellen, nämlich die Annahme, daß zwischen der
Gastfaea und der Chordaea eine lange Reihe von anders geformten
, gänzlich ausgestorbenen Zwischenformen existiert hat.
Auch nach dieser modifizierten Chordaea-Theorie würden die sechs
Primitivorgane der Chordula ihren hohen palingenetischen Wert
behalten. Das Medullarrohr würde ursprünglich ein chemisches
• Sinnesorgan gewesen sein, ein dorsales Geruchsrohr, welches vorn
durch den Neuroporus Atemwasser und Nahrungsbestandteile aufnahm
und diese hinten durch den Canalis neurentericus dem Ur-
darm zuführte. Erst später würde sich dieses Riechrohr zum
Nervenzentrum entwickelt haben, während die blasenförmig sich
ausdehnenden Gonaden (rechts und links vom Urmund gelegen)
zum Coelom wurden. Die Chorda könnte ursprünglich eine digestive,
in der dorsalen Mittellinie des Urdarmes gelegene Drüsenrinne
gewesen sein. Die beiden sekundären Darmöffnungen,
Mund und After, könnten durch FunktionsWechsel in verschiedener
Weise entstanden sein. Jedenfalls dürfen wir bei
Versuchen zur Beantwortung dieser schwierigen phylogenetischen
Fragen der Chordula eine ähnliche hohe Bedeutung zuschreiben,
wie früher der Gastrula.