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überzeugen wir uns, daß gleich allen anderen Organen auch die
höchst zweckmäßig eingerichteten und bewunderungswürdig zusammengesetzten
Sinnesorgane ohne vo rbeda cht en Zwe ck
entstanden sind; entstanden durch denselben mechanischen Prozeß
der natü r l ichen Zuchtwahl , durch dieselbe beständige
Wechselwirkung von An p a s su n g und Ve r e rb u n g , durch
welche auch die übrigen zweckmäßigen Einrichtungen der tierischen
Organisation „im Kampfe ums Dasein“ langsam und stufenweise
sich entwickelt haben.
Gleich den meisten anderen Wirbeltieren besitzt auch der
Mensch sechs verschiedene Sinnesorgane, die zur Vermittlung von
acht verschiedenen Sinnesempfindungen dienen. Die äußere Hautdecke
dient der Empfindung des Druckes (Widerstandes) und der
Empfindung der Temperatur (Wärme und Kälte). Dies ist das
älteste, niederste -und indifferenteste Sinnesorgan; es erscheint über
die Oberfläche des ganzen Körpers verbreitet. Die übrigen Sinnestätigkeiten
sind lokalisiert. Der Geschlechtssinn ist an die Hautdecke
der äußeren Geschlechtsorgane gebunden, ebenso wie der
Geschmackssinn an die Schleimhaut der Mundhöhle (Zunge und
Gaumen) und der Geruchssinn an die Schleimhaut der Nasenhöhle.
Für die beiden höchsten und am weitesten differenzierten Sinnesfunktionen
bestehen besondere, höchst verwickelte, mechanische
Einrichtungen, das Auge für den Gesichtssinn und das Ohr für
den Gehörsinn und Raumsinn (Gleichgewichtssinn). "
Die vergleichende Anatomie und Physiologie zeigt uns, daß
bei den niederen Tieren differenzierte Sinnesorgane gänzlich fehlen
und alle Sinnesempfindungen durch die äußere Oberfläche der
Hautdecke vermittelt werden. Das indi f fe r ente Hautbla t t
oder Ektode rm der Ga s t r a e a i st die e infache Z e l l e n schi
cht , aus der s ich die di f fe r enz ie r t en S inne s or
g ane sämt l i che r Me tazoen, und als o auch der
Wi rbe l t ie re , ur sprüng l i ch entwi cke l t haben. Ausgehend
von der Erwägung, daß notwendig nur die oberflächlichsten,
mit der Außenwelt in unmittelbarer Berührung befindlichen
Körperteile die Entstehung der Sinnesempfindungen vermitteln
konnten, werden' wir schon von vornherein vermuten
dürfen, daß auch die Sinnesorgane eben: dorther ihren Ursprung
genommen haben. Das ist auch in der Tat der Fall. Der
wichtigste Teil aller Sinnesorgane entsteht aus dem äußersten
Keimblatte, aus dem Hau t s inne sbl a t t e , teils unmittelbar aus
der Hornplatte, teils aus dem Gehirn, dem vordersten Teile des
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Medullarrohrs, nachdem sich dasselbe von der Hornplatte abgeschnürt
hat. Wenn wir die individuelle Entwickelung der verschiedenen
Sinnesorgane vergleichen, so sehen wir, daß sie alle
zuerst in der denkbar einfachsten Gestalt auftreten; erst ganz allmählich
bilden sich Schritt für Schritt die wundervollen Vervollkommnungen,
durch welche schließlich die höheren Sinnesorgane zu
den merkwürdigsten und kompliziertesten Einrichtungen des
Organismus sich gestalten. In der phylogenetischen Erklärung
derselben feiert die vergleichende Anatomie und Ontogenie ihre
höchsten Triumphe. Ursprünglich aber sind alle Sinnesorgane
weiter nichts, als Te i le der äußeren Hautde cke , in
wel chen Empf ind ung sne r v en sich ausbrei t e n. Diese
Nerven selbst waren ursprünglich von gleicher, indifferenter Natur.
Erst allmählich haben sich durch Arbeitsteilung die verschiedenen
Leistungen oder „spezifischen Energien“ der differenzierten Sinnesnerven
entwickelt. Zugleich haben sich die einfachen Endausbreitungen
derselben in der Hautdecke zu höchst zusammengesetzten
Organen ausgebildet. .
Welche außerordentliche Tragweite diese historischen Tatsachen
für die richtige Beurteilung des Seelenlebens besitzen,
werden Sie leicht einsehen. Die ganze Phi lo sophie der Zukunft
wird-eine andere Gestalt gewinnen, sobald die Psychologie sich
mit diesen genetischen Erscheinungen bekannt gemacht und dieselben
zur Basis ihrer Spekulationen erhoben haben wird. Wenn
man unbefangen die Lehrbücher der P s y c h o lo g i e prüft, welche
von den namhaftesten spekulativen Philosophen verfaßt sind, und
welche heute noch in allgemeiner Geltung stehen, so muß man
über, die Naivetät erstaunen, mit welcher deren Verfasser ihre
luftigen metaphysischen Spekulationen vortragen, unbekümmert
um alle die bedeutungsvollen ontogenetischen Tatsachen, durch
welche dieselben auf das klarste widerlegt werden. Und doch
liefert hier die Entwickelungsgeschichte, im Verein mit der mächtig
vorgeschrittenen vergleichenden Anatomie und Physiologie der
Sinnesorgane, der natürlichen Seelenlehre die einzige sichere
empirische Grundlage!
Mit Bezug auf die Endausbreitungen der Sinnesnerven können
wir die menschlichen Sinnesorgane in drei Gruppen bringen, welche
drei verschiedenen Entwickelungsstufen entsprechen. Die erste
Gruppe umfaßt diejenigen Sinnesorgane, deren Nerven sich ganz
einfach in der freien Oberfläche der Hautdecke selbst ausbreiten
(Organe des Drucksinnes, Wärmesinnes und Geschlechtssmnes).