
jemals umstoßen können. Natürlich werden unsere Catarrhinen-
Ahnen. eine lange Reihe von Verschiedenen Formen durchlaufen
haben, ehe schließlich als vollkommenste Form daraus der Mensch
hervorging. Als die wichtigsten Fortschritte, welche diese
„Schöpfung des Menschen“, seine Sonderung von den nächstverwandten
Catarrhinen bewirkten, sind zu betrachten: die Angewöhnung
an den aufrechten Gang und die damit verbundene
stärkere Sonderung der vorderen und hinteren Gliedmaßen, ferner
die Ausbildung der artikulierten Begriffssprache und ihres Organs,
des Kehlkopfes, endlich vor allem die vollkommenere Entwickelung
des Gehirns und seiner Funktion, der Seele; einen sehr bedeutenden
Einfluß wird dabei die geschlechtliche Zuchtwahl ausgeübt
haben, wie Darwin in seinem berühmten Werke über die
sexuelle Selektion vortrefflich dargetan hat100).
Mit Rücksicht auf diese Fortschritte können wir unter unseren
Af f ena hn en mindestens noch vier wichtige _ Vorfahrenstufen
unterscheiden, welche hervorragende Momente in dem welthistorischen
Prozesse der „Mens chwe rdung“ bezeichnen. Als
die 26. Stufe unseres menschlichen Stammbaumes können wir
zunächst an die Halbaffen die ältesten und niedersten Platyrrhinen
von Südamerika anschließen, mit einem Gebisse von 36 Zähnen;
sie haben sich aus den ersteren durch die Ausbildung des charakteristischen
Affenkopfes, durch die eigentümliche Umbildung
des Gehirns, des Gebisses, der Nase und der Finger entwickelt.
Aus diesen eocänen Stammaffen sind durch Umbildung der Nase,
durch Verlängerung des knöchernen Gehörganges und Verlust
von 4 Lückenzähnen die ältesten Catarrhinen oder Ostaffen hervorgegangen,
mit dem menschlichen Gebisse von 32 Zähnen. Diese
ältesten Stammformen der ganzen Catarrhinengruppe werden jedenfalls
noch dicht behaart und mit einem langen Schwänze versehen
gewesen sein: Hundsaf fen (Cynopitheca) oder S chwanz a f f en
[Menocerca, Fig. 330). Sie haben bereits während der älteren
Tertiärzeit gelebt und finden sich versteinert im Miocän. Unter
den heute noch lebenden Schwanzaffen sind ihnen vielleicht die
S ch lank a f f en (Semnopithecus) am nächsten verwandt101).
Wenn wir diese Schwanzaffen als 27. Stufe unserer Ahnenreihe
aufführen, so können wir denselben als 28. Stufe die schwanzlosen
Mens chena f fen (Anthropoides) anreihen. Unter diesem
Namen werden die höchst entwickelten und dem Menschen am
nächsten stehenden Catarrhinen der Gegenwart zusammengefaßt.
Sie entwickelten sich aus den geschwänzten Catarrhinen durch den
Verlust des Schwanzes, teil weisen Verlust der Behaarung und
höhere Ausbildung des Gehirns, die sich auch in dem überwiegenden
Wachstum des Gehirnschädels über den Gesichtsschädel ausspricht.
Heutzutage, leben von dieser merkwürdigen Familie nur
noch die wenigen Gattungen, die wir bereits früher betrachtet
haben (im XV. Vortrage, S..420—430): Gibbon (.Hylobates, Fig. 235)
und Orang (Satyrus, Fig. 236— 238) im südöstlichen Asien und
Insulinde; Schimpanse [Anthropithecus, Fig. 239— 241) und
Gorilla (Gorilla, Fig. 242^^44) im äquatorialen Afrika.
Das hohe Interesse, das sich naturgemäß für jeden denkenden
Menschen an die Kenntnis dieser seiner nächsten tierischen
Blutsverwandten knüpft, hat neuerdings in zahlreichen Schriften
seinen Ausdruck gefunden. Unter diesen zeichnet sich besonders
durch unbefangene Behandlung der Verwandtschafts-Verhältnisse die
kleine-Schrift von Robert Hartmann aus: „Die menschenähnlichen
Affen und ihre Organisation im Vergleich zur menschlichen'*
(Leipzig 1883, mit 63 Abbildungen). Auf Grund genauester
kritischer Vergleichung teilt Hartmann (S. 268) die Primatenordnung
in zwei Familien: I. Primarii (Mensch und Menschenaffen), und
II. Simiinae (eigentliche Affen, Catarrhinen und Platyrrhinen).
Eine abweichende Auffassung hat neuerdings Professor
H. Klaatsch in Heidelberg zu begründen versucht, in einem interessanten
und reichillustrierten Werke über „Entstehung und Entwickelung
des Menschengeschlechtes“ (im zweiten Bande des
populären, von Hans Kraemer herausgegebenen Prachtwerkes
„Weltall und Menschheit“, Berlin 1902). Dasselbe bietet insofern
eine wesentliche Ergänzung meiner Anthropogenie, als darin die
wichtigen Ergebnisse der modernen Forschungen über die Urgeschichte
des Menschen und seiner Kultur eingehend mitgeteilt
sind. Wenn aber Klaatsch die „Abstammung des Menschen vom
Affen“ als „unsinnig, engherzig und falsch“ deshalb bekämpft,
weil man dabei an jetzt lebende Affen denken müsse, so ist daran
zu erinnern, daß kein einziger kompetenter Naturforscher an diese
beschränkte Auffassung gedacht hat. Vielmehr denken wir Alle
dabei im Sinne von Lamarck und Darwin nur an die ursprüngliche,.
|auch von Klaatsch angenommene) Einhe i t des P r i matenstammes.
Diese gemeinsame Abstammung aller Primaten
(Menschen, Affen und Halbaffen) von einer ursprünglichen
Stammform, aus welcher sich die weitreichendsten Folgeschlüsse
für die gesamte Anthropologie und Philosophie ergeben, wird von
Klaatsch ebenso angenommen, wie von mir selbst und von allen