
Müller, dem wir eine sehr gründliche und ausführliche Abhandlung
Über seine Anatomie verdanken. In neuester Zeit ist durch die
gründlichen Untersuchungen mehrerer ausgezeichneter Beobachter,
vor allen von Hatschek und Boveri, unsere anatomische Kenntnis
des Lanzelot wesentlich ergänzt und namentlich auch der feinere
Bau näher bekannt geworden 7lk <•'
Der Amphioxus lebt an flachen, sandigen Stellen der Meeresküste,
teilweise im Sande vergraben, und ist, wie es scheint, sehr
verbreitet in verschiedenen Meeren. Er ist gefunden in der Nordsee
(an den großbritannischen und skandinavischen Küsten, sowie
bei Helgoland); im Mittelmeer an verschiedenen Stellen (z. B, bei
Nizza, Neapel und Messina). Er kommt ferner an der brasilianischen
Küste vor und ebenso an entfernten Gestaden des Pacifischen Ozeans
(Küsten von Peru, Borneo, China, Australien u.'s. w.). Neuerdings
sind 8— io verschiedene Species von Amphioxus auf gestellt und.
auf 2— 3 verschiedene Gattungen verteilt worden. Zum Genus
Amphioxus im engeren Sinne (mit zwei Gonadenreihen) gehören
die beiden europäischen Arten (A. lanceolatus, weit verbreitet,
und A. prototypus, von Messina). 'Von der Gattung Paramphioxus
(-fl! auch geteilt in Epigonichthys und Asymmetron mit einer un-
paaren Gonadenreihe) leben mehrere Arten in der südlichen Hemisphäre.
Die Species beider Gattungen sind äußerlich sehr ähnlich;
sie unterscheiden sich hauptsächlich durch die Zahl der Metameren
oder Segmente, welche zwischen 50 und 80 schwankt^5).
Johannes Müller stellte das Lanzettierchen im System zu den
Fischen, obwohl er hervorhob, daß die Unterschiede dieses einfachen
Wirbeltierchens von den niedersten Fischen viel bedeutender
sind, als die Unterschiede aller Fische von den Amphibien. Damit
wird aber die richtige Wertschätzung des bedeutungsvollen Tierchens
noch lange nicht ausgedrückt. Vielmehr können wir mit
voller Sicherheit den wichtigen Satz auf stellen: D e r Amp hio xu s
i st von d en F i s eh en vie l v e r s chiedene r als d i eF i s c h e
vom Menschen und von allen übrigen Wirbeltieren. Er ist in
der Tat seiner ganzen Organisation nach so sehr von allen anderen
Vertebraten verschieden, daß wir nach den Gesetzen der systematischen
Logik zunächst zwei Hauptabteilungen in diesem Stamme
unterscheiden müssen: I. Sch äd e l lo s e oder Acrania (Amphioxus
und seine ausgestorbenen Verwandten) und II. Sch äd e l t i e r e
oder Craniota (der Mensch und alle übrigen Wirbeltiere)76).
Die erste, niedere Abteilung bilden die Wirbeltiere ohne
Wirbel und Schädel, welche wir eben deshalb Schäde l lo s e oder
A er an i er nennen. Hiervon lebt heutzutage nur noch der Amphioxus
und der Paramphioxus, während in früheren Zeiten der Erdgeschichte
zahlreiche und verschiedenartige Formen dieser Abteilung
existiert haben müssen. Wir dürfen hier ein allgemeines
Gesetz aussprechen, welches jeder Anhänger der Entwickelungstheorie
zugeben wird: Solche ganz eigentümliche und isolierte Tierformen,
wie der Amphioxus; welche scheinbar im System der
Tiere vereinzelt dasteheri, sind immer die letzten Mohikaner, die
letzten überlebenden Reste einer ausgestorbenen Tiergruppe, von
welcher in früheren Zeiten der Erdgeschichte zahlreiche und
mannigfaltige Formen existierten. Da der Amphioxus ganz weich
ist, da er keine festen Körperteile, keine versteinerungsfähigen
Organe besitzt, so dürfen wir annehmen, daß auch alle seine zahlreichen
ausgestorbenen Verwandten ebenso weich waren und daher
keine fossilen Abdrücke oder Versteinerungen hinterlassen konnten.
Diesen Schädellosen oder Acraniern gegenüber steht die zweite
Hauptabteilung der Vertebraten, welche alle übrigen Wirbeltiere,
von den Cyclostomen und Fischen bis zum Menschen hinauf um-
faßt. Alle diese Wirbeltiere haben einen Kopf, der deutlich vom
Rumpfe geschieden ist und einen Schädel mit Gehirn enthält; alle
haben ein zentralisiertes Herz, ausgebildete Nieren u. s. w. Wir
nennen sie S ch äd e l t i e r e oder Cranioten. Aber auch diese
Schädeltiere sind in der ersten Jugend schädellos. Wie Sie bereits
aus der Ontogenie wissen, durchläuft auch der Mensch, wie jedes
Säugetier, in frühen Zeiten der individuellen Entwickelung jenen
wichtigen Zustand, welchen wir als Chordula bezeichnet haben;
auf dieser niederen Bildungsstufe besitzt dasselbe weder Wirbel,
noch Schädel, noch Gliedmaßen (Fig. 86—89, S. 246). Aber auch
nachdem die Bildung der „Urwirbel“ oder Segmente begonnen
hat, besitzt der gegliederte Keim der Amnioten noch eine Zeitlang
die ganz einfache Gestalt einer leierförmigen Scheibe oder
Sandale, an welcher Extremitäten oder Gliedmaßen noch gar nicht
vorhanden sind. Wenn wir diesen frühen embryonalen Formzustand,
den Sanda l ionke im (Taf. IV, V, S. 320), mit dem entwickelten
Lanzettierchen vergleichen, so können wir sagen: der Amp h i oxus
i st in g ewi s s em Sinne ein pe r s i s t ente r S an d a l
ionembryo, eine ble ibende Ke imfo rm der Sehädel -
t i ere; er erhebt sich nie über einen gewissen niederen, von uns
längst überwundenen, frühen Jugendzustand.
Das vollkommen ausgebildete Lanzettierchen (Fig. 245) wird
5—6 Centimeter (über zwei Zoll) lang, ist farblos oder schwach