
Auch die einfachste und niederste Form der Ne s s e l t i e r e
(Cnidarid) steht jenen Gastraeaden noch ganz nahe. Bei dem
interessanten gewöhnlichen S ü ßwa s s e rpo lypen (Hydra) ist
der ganze Leib ebenfalls weiter nichts als ein einfacher eiförmiger
Schlauch mit zweischichtiger Wand; nur ist die Mundöffnung hier
bereits von einem Fühlerkranze umgeben. Ehe sich dieser entwickelt,
gleicht Hydr a ebenfalls einer Ascula (Fig. 2go, 291).
Später finden im Ektoderm derselben geringe histologische Differenzierungen
statt, während das Entoderm eine einfache Zellenschicht
bleibt. In dem verdickten Ektoderm der Hydra beginnt
die.erste Sonderung von Epithelzellen und Nesselzellen, Mu s k e l zellen
und Nervenzellen.
Endlich ist als besonders wichtig schon hier die Tatsache
hervorzuheben, daß auch der Körperbau der niedersten Pla t ten -
t ie r e (Platodes) sich nur wenig über die Organisation jener
„Gastraeaden der Gegenwart“ erhebt. Die einfachsten und ältesten
Formen der Platoden sind die Pla toda r ien, die sogenannten
acoelen (-1 oder besser kryptocoelen —) Strudelwürmer; sie sind uns
neuerdings durch eine ausgezeichnete Monographie von Ludwig
von Graff näher bekannt geworden. Diese K r y p t o c o e l e n
(Convoluta, Aphanostomum etc.) besitzen zwar schon die bilaterale
Grundform der eigentlichen Turbellarien, stehen aber in morphologischer
Beziehung noch näher den Gastraeaden.
Bei allen diesen einfachsten lebenden Coelenterien werden
beiderlei Geschlechtszellen — Eizellen und Spermazellen — von
einer und derselben Person ausgebildet; vermutlich werden auch
die ältesten Gastraeaden Zwi t t e r gewesen sein. Denn aus der
vergleichenden Anatomie ergibt sich, daß die Zwi t t e rb i ld u n g
d. h. die Vereinigung der beiderlei Geschlechtszellen in einem
Individuum (Hermaphrodismus) der älteste und ursprünglichste
Zustand der geschlechtlichen Differenzierung ist; erst später entstand
die G e s c h l e c h t s t r e n n u n g (Gonochdrismus). Die
Bildung der Gonidien oder Geschlechtszellen ging ursprünglich
wohl vom Urmundrande der Gastraeaden aus.
Zwanzigster Vortrag.
Unsere Vermalien-Ahnen.
„Ein eklatantes Beispiel unkritischer und damit unwissenschaftlicher Vergleichung
ist die'- bekannte Vergleichung des sogenannten Bauchmarkes wirbelloser Tiere mit
dem Rückenmarke der Vertebraten. Sie ignoriert die wichtigsten Instanzen,, indem sie
nur ganz allgemeine und für den besonderen Fall unwesentliche Dinge als ausschlaggebend
betrachtet. Eine solche unwissenschaftliche Vergleichung wandelt wie m einem
Labyrinthe, in dem an den ersten Irrweg nur neue sich anreihen. Wie der Kritik-
mangel einerseits wichtige Tatsachen übersieht, so führt er anderseits wieder gleichgültige
Dinge ins Feld.“ | 1 II
C a rl Gegenbaur (1876).
Stammbaum der wirbellosen Metazoen. Getrennte Abstammung
der Wirbeltiere und Gliedertiere. Chordonier-Hypothese und
Anneliden-Hypothese. Platoden-Ahnen: Kryptocoelen, Turbellarien.
Vermalien-Ahnen: Gastrotrichen, Nemertinen, Entero-
pneusten. Abstammung der Chordonier.