
Lassen Sie uns nun, ehe wir die individuelle Entwickelung1
des komplizierten Gehirnbaues aus dieser einfachen Blasenreihe ins
jA.uge fassen, zum besseren Verständnis noch einen vergleichenden
Seitenblick auf die niederen Tiere werfen, welche kein solches
Gehirn besitzen. Da treffen wir schon bei den schädellosen Wirbeltieren,
beim Amphioxüs, wie Sie bereits wissen, kein selbständiges
Gehirn an. Das ganze Zentralmark bildet hier bloß einen einfachen
cylindrischen Strang, welcher der Länge nach durch den Körper
hindurchgeht und vorn fast ebenso einfach endet wie hinten: ein
einfaches VI e d u 11.1 r r o h r (Taf. XXX., Fig. 15 171). Nur eine kleine
blasenförmige Anschwellung im vordersten Teile des Markrohres
ist als rückgebildetes Rudiment eines Urhi rnes (Archencephalon)
zu deuten. Dasselbe einfache Markrohr trafen wir aber bereits in
der ersten Anlage bei der Ascidienlarve an (Taf. XVIII, Fig. 5 m),
und zwar in derselben charakteristischen Lage, oberhalb der Chorda.
Bei genauerer Betrachtung finden wir auch hier eine kleine blasenförmige
Anschwellung am vorderen Ende des Markrohrs: die
erste Andeutung einer Sonderung desselben in Gehirn (mj und
Rückenmark (m2). Bei den ausgestorbenen UrWirbeltieren war
diese Sonderung wahrscheinlich stärker ausgesprochen und das
Gehirn stärker blasenförmig aufgetrieben (Fig. 101— 105, S. 270).
Das Gehirn i s t p h y lo g ene t i s ch äl ter als das R ü c k e n mark
, da sich der Rumpf erst nach dem Kopf entwickelt hat.
Wenn wir nun die unleugbare Verwandtschaft der Ascidien mit
den Wurmtieren in Betracht ziehen und uns erinnern, daß wir alle
Chordatiere von niederen Vermalien ableiten können, so wird es
wahrscheinlich, daß das- einfache Zentralmark der ersteren dem
einfachen Nervenknoten gleichbedeutend ist, welcher bei den
niederen Würmern über dem Schlunde liegt und deshalb seit
langer Zeit den Namen „Obe r s chlundknoten“ führt (Ganglion
pharyngeum superius); besser wird derselbe als Urhi rn oder
Sche i t e lhi rn (Acroganglion) bezeichnet. Bei den Strudelwürmern
und Rädertieren besteht das ganze Nervensystem nur
aus diesem einfachen Knotenpaar, welches auf der Rückenseite des
Körpers liegt, und von welchem Nervenfäden an die verschiedenen
Körperteile ausstrahlen (Fig_ 341 g, n)(). Bei den niedersten und
ältesten Plattentieren, den Platodarien oder Kryptocoelen, Fig, 293,
S. 570), ist dieses Scheitelhirn noch nicht einmal von seiner Ur-
sprungsstätte, dem Hautsinnesblatte, gesondert, sondern bildet eine
lokale Anschwellung desselben, eine epidermale „Scheitelplatte“
(Acroplatea).
Wahrscheinlich ist dieser Oberschlundknoten der niederen
Würmer die einfache Grundlage, aus der sich das komplizierte
Zentralmark der höheren Tiere' entwickelt hat. Durch V e r l
än g e ru n g des S che i t e lhi rns auf der Rü c k en s e i t e ist
das'1 Mark rohr der Chordonie r ents tanden, welches ausschließlich
den Wirbeltieren und Manteltieren eigentümlich ist.
Hingegen hat sich bei allen übrigen Tieren das Zentralnervensystem
in ganz anderer Weise aus dem oberen Schlundknoten entwickelt;
insbesondere ist bei den Gliedertieren zu letzterem ein
Schlundring mit Bauchmark hinzugekommen. Auch die Weichtiere
haben einen Schlundring, während dieser den Wirbeltieren
durchaus fehlt. Bei den Wirbeltieren allein hat eine Fortentwickelung
des Zentralmarks auf der Rü c k ens e i t e , bei den Gliedertieren
hingegen gerade umgekehrt auf der Bauchs e i t e des
Körpers stattgefunden. Schon diese fundamentale Tatsache beweist,
daß keine direkte Verwandtschaft zwischen den Vertebraten
und Articulaten besteht. Die unglücklichen Versuche, das Rückenmark
der ersteren aus dem Bauchmark der letzteren abzuleiten,
sind völlig mißlungen (vergl. S. 350, 378, 562|p |65)-
Wenn wir nun die Ke ime s g e s ch i c h t e des menschlichen
Nervensystems betrachten, so haben wir vor allem von der hochwichtigen,
Ihnen bereits bekannten Tatsache auszugehen, daß die
erste Anlage desselben beim Menschen wie bei allen anderen
Wirbeltieren durch das e infache Markrohr gebildet wird, und
daß dieses in der Mittellinie des sohlenförmigen Keimschildes sich
vom äußeren Keimblatte abschnürt. Wie Sie sich erinnern werden,
entsteht zuerst in der Mitte des sandalenförmigen Keimschildes die
geradlinige Medullarfurche (Taf. IV, V, S. 305). Beiderseits derselben
wölben sich ihre beiden parallelen Ränder in Form der Rückenwülste
oder Markwülste empor. Diese krümmen sich mit ihren
freien oberen Rändern gegeneinander und verwachsen dann zu
dem geschlossenen Markrohr (Fig. 139— 142). Anfangs liegt
dieses Medullarrohr unmittelbar unter der Hornplatte; später aber
kommt es ganz nach innen zu liegen, indem von rechts und links
her die oberen Ränder der Urwirbelplatten zwischen Hornplatte
und Markrohr hineinwachsen, sich über letzterem vereinigen und
so dasselbe in einen völlig geschlossenen Kanal betten. Wie
Gegenbaur sehr treffend bemerkt, „muß diese allmählich erfolgende
Einbettung in das Innere des Körpers hierbei als ein mit der fortschreitenden
Differenzierung und der damit erlangten höheren
Potenzierung erworbener Vorgang gelten, durch den das für