
zwei ursprünglichen Keimblättern ein drittes entsteht, das Mittelblatt
oder Mesoderm; indem dieses sich in zwei Blätter spaltet,
kommt es zur Bildung von vier sekundären Keimblättern. Diese
haben beim Menschen genau dieselbe Zusammensetzung und genetische
Bedeutung, wie bei allen anderen Wirbeltieren. Aus dem
Hautsinnesblatte entwickelt sich die Oberhaut und das Zentralnervensystem,
sowie der wichtigste Teil der Sinnesorgane. Das
Hautfaserblatt bildet die Lederhaut und die Bewegungsorgane,
Skelett und Muskelsystem. Aus dem Darmfaserblatt entstehen
das Gefäßsystem, die fleischige Darmwand und die Geschlechtsdrüsen.
Das Darmdrüsenblatt -endlich bildet bloß das Epithelium
oder die innere. Zellenschicht der Darmschleimhaut und der Darmdrüsen
(Lunge, Leber u. s. w.).
Die Art und Weise, wie diese verschiedenen Organsysteme aus
den vier sekundären Keimblättern entspringen, ist beim Menschen
von Anfang an im wesentlichen dieselbe, wie- bei allen anderen
Wirbeltieren. Bei der Keimesgeschichte jedes einzelnen Organes
überzeugten wir uns davon, daß der menschliche Keim diejenige
spezielle Richtung der Differenzierung und Formbildung einschlägt,
welche außerdem nur bei den Wirbeltieren gefunden wird. Innerhalb
dieses großen Tierstammes haben wir dann Schritt für Schritt
und Stufe für Stufe die weitere Ausbildung verfolgt, welche sowohl
der ganze Körper als alle einzelnen Teile desselben erfahren. Diese
höhere Ausbildung erfolgt beim Embryo des Menschen in derjenigen
besonderen Form, welche nur den Säugetieren eigentümlich
ist. Endlich haben wir gesehen, daß selbst innerhalb dieser
Klasse die verschiedenen phylogenetischen Entwickelungsstufen,
welche das natürliche System der Säugetiere unterscheidet, den
verschiedenen ontogenetischen Bildungsstufen entsprechen, welche
der menschliche Embryo bei seiner weiteren Entwickelung durchläuft.
Dadurch wurden wir in den Stand gesetzt, die Stellung
des Menschen inuSysteme dieser Klasse näher zu bestimmen und
demgemäß sein Verwandtschaftsverhältnis zu den verschiedenen
Säugetier-Ordnungen festzustellen.
Der Weg der Schlußfolgerung, den wir bei der Deutung dieser
ontogenetischen Tatsachen betraten, war einfach die konsequente
Ausführung des Bio g ene t i s chen Grundgeset zes . Dabei
haben wir beständig die bedeutungsvolle Unterscheidung zwischen
den palingenetischen und den cenogenetischen Erscheinungen durchzuführen
gesucht. Nur die Pa l ing ene s i s oder die „Auszugsentwickelung“
gestattet uns einen unmittelbaren Rückschluß von
der beobachteten Keimform auf die durch Vererbung übertragene
Stammform. Hingegen wird dieser Rückschluß mehr oder minder
gefährdet, sobald durch neue Anpassungen die Cenogene s i s oder
„Störungsentwickelung“ zur Geltung gelangt. Von der Anerkennung
dieser höchst wichtigen Beziehungen hängt das ganze Verständnis
der individuellen Entwickelungsgeschichte ab. Hier stehen wir an
der Scheide, wo sich neue und alte Naturforschung, neue und alte
Weltanschauung entschieden, trennen. Die gesamten Ergebnisse
der neueren morphologischen Forschung drängen uns mit unabwendbarer
Gewalt zu der Anerkennung jenes Biogenetischen Grundge-
gesetzes und seiner weitreichenden Konsequenzen. Freilich sind diese
mit der hergebrachten mythologischen Weltanschauung und mit den
mächtigen, in früher Jugend uns durch den theosophischen Schulunterricht
eingeimpften Vorurteilen unvereinbar. Aber ohne das
Biogenetische Grundgesetz, ohne die Unterscheidung der Palingenesis
und Cenogenesis, und ohne die Descendenztheorie, auf
die wir dieselbe stützen, sind wir gar nicht im stände, die Tatsachen
der organischen -Entwickelung überhaupt zu begreifen-
ohne sie vermögen wir auch nicht den geringsten Schimmer einer
Erklärung auf dieses ganze wunderbare Erscheinungsgebiet fallen
zu lassen. -Wenn wir aber die in jenem Gesetz enthaltene ursächliche
Wechselbeziehung von Keimes- und Stammesentwickelung,
den wahren Kau s a ln e x u s der Ontog ene s i s und P h y l o gene
s i s anerkennen, dann erklären sich uns die wunderbaren
Phänomene der individuellen Entwickelung auf die einfachste Weise;
dann erscheinen uns die Tatsachen der Keimesentwickelung nur
als die notwendigen mechanischen Wirkungen der Stammesentwickelung,
bedingt durch die Gesetze der V e r e rb u n g und A n passung.
Die Wechselwirkung dieser Gesetze unter dem überall
stattfindenden Einflüsse des Kampfes ums Dasein, oder wie wir
mit Darwin einfach sagen können: die „NaturZüchtung“ ist vollkommen
ausreichend, uns den ganzen Prozeß der Keimesgeschichte
durch die Stammesgeschichte zu erklären. Darin besteht ja eben
das fundamentale Verdienst Darwins, daß er die von Lamarck
erkannte Wechselwirkung zwischen den Vererbungs- und Anpassungserscheinungen
durch seine Selektionstheorie erklärt und
uns den richtigen W eg zum kausalen Verständnis der Entwickelungsgeschichte
gebahnt hat.
Diejenige großartige Erscheinung, auf deren klare Erkenntnis
hier in erster Linie alles ankommt, is t die V e r e rb u n g von
Anpaßmalen oder „funktionellen Veränderungen“. Jean Lamarck