
haben wir früher bereits gewürdigt, als wir den Körperbau des
idealen Urwirbeltieres untersuchten (im XI. Vorträge, Fig. ioi
bis 105). Vor allen anderen Merkmalen traten in den Vordergrund:
1) die Entwickelung des Urhirns zu einem dorsalen Medullarrohr;
2) die Ausbildung der Chorda zwischen Markrohr und Darmrohr;
3) die Sonderung des Darmrohres in einen vorderen Riemendarm
und hinteren Leberdarm; 4) die innere Gliederung oder Metameren-
bildung. Die drei ersten Eigenschaften teilen die Wirbeltiere noch
mit den Ascidienlarven und den Prochordoniern; die vierte Eigenschaft
besitzen sie allein. Demnach bestand der wichtigste Fortschritt
in der Organisation, durch welchen die ältesten Wirbeltierformen
aus den nächst verwandten ungegliederten Chordatieren
hervorgingen, in dem Erwerbe der inneren Gl i ed e rung oder
Metamerie. Diese begann zunächst mit dem Zerfall der paarigen
Coelomtaschen in eine Doppelreihe von Somiten oder Ursegmenten.
Aus deren DöTsalhälften (Episomiten) entstanden -die Reihen der
Muskeltaschen, aus ihren Ventralhälften (Hyposomiten) die Reihen
der Geschlechtstaschen. Erst später prägte sich die innere Gliederung
oder Vertebration auch am Skelett, am Nervensystem und am
Blutgefäßsystem deutlich aus.
Das Verständnis der Stammesgeschichte der Wirbeltiere wird
sehr erleichtert durch die naturgemäße Klassifikation des Stammes,
welche ich zuerst in meiner Generellen Morphologie (1866) vorgeschlagen
und später in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte
mehrfach verbessert habe. (Vergl. die 10. Auflage der letzteren,
XXIV. Vortrag.) Danach müssen wir unter den heute noch
lebenden Wirbeltieren zunächst folgende 8 Klassen unterscheiden':
S y s tem a t is c h e U e b e r s ich t d e r a c h t W i rb e lt ie r -K la s s e n :
A. Schädellose, Acrania:
a)~ Rundmäuler, Cyclostoma
B.
Schädeltiere,
Craniota
b) Kiefermäuler
(Gnathostoma)
öder
Paamasen
(Amphirhina)
I. Amnionlose
Anamnia
II. Amniontiere
Amniota
1. Rohrherzen
2. Unpaamasen
r 3. Fische
< 4. Lurchfische
l 5. Lurche
1 6. Reptilien
j 7 ■ Vögeli
{ 8. Säugetiere
1. Leptocardia
2. Monorhina
3. Pisces
4. Dipneusta
5. Amphibia
6. R ep tilia
7. Aves
8. Mammalia
Der ganze Stamm der Wirbeltiere zerfällt zünächst in die
beiden Hauptabteilungen der Schädellosen und der Schädeltiere.
Von der älteren und niederen Abteilung der Schäde l los en
{Acrania) lebt heutzutage nur noch der Amphioxus. Zu der
jüngeren und höheren Abteilung der S chäde l t ie r e (Craniota)
gehören alle übrigen lebenden Wirbeltiere bis zum Menschen
hinauf. Die Schädeltiere stammen direkt von den Schädellosen ab,
wie diese von den Urchordatieren. Die ausführliche Untersuchung,
welche wir über die vergleichende Anatomie und Ontogenie der
Ascidie und des Amphioxus anstellten, hat uns bereits von diesen
wichtigen Beziehungen überzeugt. (Vergl. den XVI. und XVH. Vortrag,
spwie Taf. XVIII und X IX nebst Erklärung.) Als die
wichtigste Tatsache von der größten Tragweite will ich nur nochmals
hervorheben, daß der Amphioxus sich ganz in derselben
Weise aus dem E l entwickelt, wie die Ascidie. Bei beiden entsteht
auf ganz gleichem Wege aus der einfachen Stammzelle
{Cytula) eine kugelige Blastula, welche sich durch Einstülpung
in die becherförmige Gastrula verwandelt. Aus dieser geht jene
merkwürdige Larvenform hervor, welche wir Chordula nannten,
und welche auf der Rückenseite des Darmrohrs ein Markrohr und
zwischen beiden Röhren eine Chorda entwickelt. Später sondert
sich d a n n das Darmrohr (ebenso bei der Ascidie wie beim
Amphioxus) in den vorderen Kiemendarm und den hinteren Leberdarm.
Diese fundamentalen Tatsachen konnten wir nach dem
Biogenetischen Grundgesetze für unsere Phylogenie direkt zu dem
wichtigen Satze verwerten: Der Amp hio xu s , die niederste
Wirbeltierform, und die As c id i e , die nächst verwandte wirbellose
Tierform, stammen beide von einer und derselben ausgestorbenen
Stammform ab: Chordaea; diese wird im wesentlichen die Organisation
der Chordula besessen haben.
Nun ist aber der Amphioxus nicht allein deshalb von außerordentlicher
Bedeutung, weil er die tiefe Kluft zwischen den Wirbellosen
und den Wirbeltieren ausfüllt, sondern auch deshalb, weil
er uns das typische Wirbeltier in seiner einfachsten Gestalt noch
heute vor Augen führt. Wir verdanken ihm die wichtigsten, unmittelbaren
Anhaltspunkte, um die allmähliche historische Entwickelung
des ganzen Stammes zu verstehen. Wenn uns der
Körperbau und die Keimesgeschichte dieses unschätzbaren Urwirbeltieres
unbekannt wären, so würde das ganze Verständnis der
älteren Entwickelung des Wirbeltierstammes und somit auch unseres
eigenen Geschlechts von einem dichten Schleier verhüllt sein. Erst
die genaue anatomische und ontogenetische Kenntnis des Amphioxus,
die wir neuerdings gewonnen haben, hat jenen dichten, früher
für undurchdringlich gehaltenen Schleier gelüftet. Wenn Sie diesen
uralten Acranier mit dem entwickelten Menschen oder irgend einem
höheren Wirbeltiere vergleichen, so ergibt sich eine Menge von