
die Keimformen selbst wieder abgeändert worden sind und ihre
ursprüngliche Beschaffenheit teilweise eingebüßt haben.
Während der unermeßlichen Dauer der organischen Erdgeschichte,
während der vielen Millionen Jahre, in denen sich das
organische Leben auf unserem Planeten entwickelte, haben bei den
meisten Tieren sekundäre Veränderungen der Keimungsweise stattgefunden,
welche zuerst Fritz Müller-Desterro klar erkannt und
in seiner geistvollen Schrift „Für Darwin“ in folgendem Satze ausgesprochen
hat: „Die in der Entwickelungsgeschichte (des Individuums)
erhaltene geschichtliche Urkunde wird allmählich v e r wi
s cht , indem die Entwickelung einen immer geraderen W eg vom
Ei zum fertigen Tiere einschlägt, und sie wird häufig g e fä l s cht
durch den Kampf ums Dasein, den die frei lebenden Larven zu
bestehen haben.“ Die erste Erscheinung, die V e rwi s c h u n g des
ontogenetischen Auszuges, ist durch das Gesetz der vereinfachten-
oder a bg e k ü r z t en V e r e rb u n g bewirkt. Die zweite Erscheinung,
die F ä l s c h u n g (oder besser die Störung) des ontogenetischen
Auszuges, ist durch das Gesetz der abgeänderten, g e fä
l s cht en oder g e s tör t en V e r e rb u n g bedingt. Nach diesem
letzteren Gesetze können die Jugendformen der Tiere (nicht bloß
die freilebenden Larven, sondern auch diel im Mutterleibe eingeschlossenen
Embryonen) durch die Einflüsse der nächsten-Umgebung
ebenso umgebildet werden, wie die ausgebildeten Tiere
durch die Anpassung an die äußeren Existenzbedingungen; die.
Arten werden selbst während der Keimung abgeändert. Nach dem
Gesetze der abgekürzten Vererbung aber ist es für alle höheren
Organismen (und zwar um so mehr, je höher sie entwickelt sind)
von Vorteil, den ursprünglichen Entwickelungsgarig abzukürzen,
zu vereinfachen und dadurch die Erinnerung an die Vorfahren
zu verwischen. Je höher der einzelne Organismus im Tierreiche
steht, desto weniger vollständig wiederholt er während seiner
Ontogenese die ganze Reihe der Vorfahren, aus Gründen, die zum
Teil bekannt, zum Teil noch verborgen sind. Die Tatsache ergibt
sich einfach aus der Vergleichung der verschiedenen individuellen
Entwickelungsgeschichten höherer und niederer Tiere in
jedem einzelnen Stamme.
In richtiger Würdigung dieses bedeutungsvollen Verhältnisses
haben wir die ontogenetischen Phänomene oder die Erscheinungen
der individuellen Entwickelung allgemein in zwei verschiedene
Gruppen verteilt, in palingenetische und cenogenetische Phänomene.
Zur P a l in g ene s i s oder „Auszugsentwickelung“ rechnen wir
jene Tatsachen der Keimesgeschichte, welche wir unmittelbar als
einen getreuen Auszug der entsprechenden Stammesgeschichte
betrachten können. Hingegen bezeichnen wir als Cenog ene s i s
oder „Störungsentwickelung“ jene ontogenetischen Prozesse, welche
wir nicht direkt auf entsprechende phylogenetische Vorgänge beziehen
können, sondern im' Gegenteil als Abänderungen oder
Fälschungen der letzteren beurteilen müssen. Durch diese kritische
Sonderung der palingenetischen und der cenogenetischen Keimungs-
Erscheinungen erhält unser Biogenetisches Grundgesetz die folgende
schärfere- Fassung: die schnelle und kurze Keimesgeschichte
(Ontogenie) ist ein gedrängter Auszug der langsamen und langen
Stammesgeschichte (Phylogeniej; dieser Auszug ist um so getreuer
und vollständiger, je; mehr durch V e r e r b u n g die A u s z u g s en
twi c k e lu n g (Palingenesis) erhalten ist, und je weniger durch
An p a s su n g die - S t ö r u n g s e n twi c k e lu n g (Cenogenesis)
eingeführt is t10). ■
Um nun in der .Keimesgeschichte die palingenetischen und
cenogenetischen Erscheinungen naturgemäß zu unterscheiden und
.daraus richtige Schlüsse auf die Stammesgeschichte zu ziehen,
müssen wir die erstere vor allem v e r g l e i ch e n d betreiben. Nur
durch vergleichende Ontogenie der verwandten Formen können wir
die Spuren ihrer Phylogenie entdecken. Dabei werden wir mit
größtem Vorteil diejenige Methode anwenden, welche schon seit
langer Zeit die Geologen benutzen, um die Reihenfolge der sedimentären
Gesteine unserer Erdrinde festzustellen. Sie wissen, daß
die feste Rinde unseres Erdballs, welche als dünne Schale die glutflüssige
innere Hauptmasse desselben umschließt, aus zweierlei
verschiedenen Hauptklassen von Gesteinen zusammengesetzt ist:
erstens aus den sogenannten plutoni s chen und vulkanischen
Felsmassen, welche unmittelbar durch Erstarrung der geschmolzenen
inneren Erdmasse an der Oberfläche entstanden sind; und zweitens
aus den Isogenannten neptuni s chen (oder sedimentären) Gesteinen,
welche durch die umbildende Tätigkeit des Wassers aus
den ersteren entstanden und schichtenweise übereinander auf dem
Boden der Gewässer abgesetzt sind. Zuerst bildete jede dieser
neptunischen Schichten ein weiches Schlammlager; im Laufe der
Jahrtausende aber verdichtete sich dasselbe zu fester, harter Felsmasse
(Sandstein; Mergel, Kalkstein u. s. w.), und schloß zugleich
bleibend die festen und unverweslichen Körper ein, welche zufällig
in den weichen Schlamm hineingeraten waren. Zu diesen Körpern,
die auf solche Weise entweder selbst „versteinert“ wurden oder