wie der Mensch, der denkt. Nur sind in diesen letzteren Fällen
die Kombinationen der verschiedenen Kräfte, welche als „Bewegung“
in die Erscheinung treten, viel verwickelter und viel
schwieriger zu erkennen, als in jenen ersteren Fällen.
Unsere Anthropogenie hat uns zu dem Resultate geführt, daß
auch in der gesamten Entwickelungsgeschichte des Menschen, in
der Keimes-, wie in der Stammesgeschichte, keine anderen lebendigen
Kräfte wirksam sind, als in der übrigen organischen und
anorganischen Natur. Alle die Kräfte, die dabei wirksam sind,
konnten wir zuletzt auf das Wa chs tum zurückführen, auf jene
fundamentale Entwickelungsfunktion, durch welche ebenso die
Formen der Anorgane wie der Organismen entstehen. Das Wachstum
selbst aber beruht wieder auf Anziehung und Abstoßung von
gleichartigen und ungleichartigen Teilchen. Schon Carl Ernst
von Baer faßte vor 75 Jahren das allgemeinste Resultat seiner
klassischen Untersuchungen über Entwickelungsgeschichte der
Tiere in dem Satze zusammen: „die Entwickelungsgeschichte des
Individuums ist die Geschichte der wachsenden Individualität in
jeglicher Beziehung“. Gehen wir aber tiefer auf den Grund dieser
„Wachs tums g e s e t z e “ hinab, so finden wir, daß sie zuletzt sich
immer auf jene Anziehung und Abstoßung der beseelten Atome
zurückführen lassen, die bereits Empedocles als „Liebe und Haß“
der Elemente bezeichnete.
Die Entwickelung des Menschen erfolgt demgemäß nach
denselben „ewigen, ehernen Gesetzen“, wie die Entwickelung jedes
anderen Naturkörpers. Diese Gesetze führen uns überall auf dieselben
einfachen Prinzipien zurück, auf die elementaren Grundsätze
der Physik und Chemie. Nur durch den Grad der Verwickelung,
durch die Stufe der Zusammensetzung, in welcher die verschiedenen
Kräfte Zusammenwirken, sind die einzelnen Naturerscheinungen so
verschieden. Jeder einzelne Prozeß der Anpassung und Vererbung
in der Stamme sge s chi cht e unserer Vorfahren ist schon an
sich ein sehr verwickeltes physiologisches Ereignis. Unendlich
verwickelter aber sind die Vorgänge unserer menschlichen Keimesg
e s chi chte; denn in dieser sind ja schon Tausende von jenen
phylogenetischen Prozessen verdichtet und zusammengefaßt.
In meiner „Generel l en Morphologie “, die 1866 erschien,
hatte ich den ersten Versuch gewagt, die von Charles Darwin
reformierte Descendenztheorie auf das Gesamtgebiet der Biologie
anzuwenden und insbesondere die organische Formen Wissenschaft
mit ihrer Hülfe m e c h a n i s c h zu begründen. Die innigen
Beziehungen, welche zwischen allen Teilen' der organischen
Naturwissenschaft bestehen', vor allem aber der unmittelbare Kausalnexus
zwischen beiden Teilen der Entwickelungsgeschichte, zwischen
Ontogenie und Phylogewie, wurden in jenem Werke zum ersten
Male durch den Transformismus erklärt, und zugleich ihre philosophische
Bedeutung im Lichte der Abstammungslehre erläutert. Der
anthropologische Teil der „Generellen Morphologie“ (VII. Buch) enthält
auch den ersten Versuch, die „Ahnenreihe des Menschen“
zoologisch zu bestimmen (Bd. II, S. 428), Wie unvollständig auch
diese Progonotaxis war, so gab sie doch den ersten Anhalt für
die nachfolgende weitere Erforschung unserer ausgestorbenen Vorfahrenkette.
In den 37 Jahren; die seitdem verflossen sind, hat sich
unser biologischer Gesichtskreis außerordentlich erweitert; unsere
empirischen Kenntnisse auf den Gebieten der Paläontologie, der vergleichenden
Anatomie und Ontogenie sind in erstaunlichem Maße
gewachsen, dank den vereinten Anstrengungen zahlreicher trefflicher
Arbeiter und der Anwendung verbesserter Methoden. Viele
wichtige Fragen der Biologie, welche damals noch als dunkle Rätsel
vor uns standen, erscheinen heute schon gelöst ; und wenn nach
der dunklen Nacht mystischer Dogmatik der Darwinismus als die
Morgenröte eines neuen Tages klaren monistischen Naturerkennens
erschien, so dürfen wir heute stolz und freudig sagen, daß es in
unserem Forschungsgebiete heller, lichter Tag geworden ist.
Philosophen und Laien, welche den empirischen Quellen
unserer „Schöpfungsurkunden“ ebenso fern stehen, als den phylogenetischen
Methoden ihrer historischen Verwertung, haben noch
neuerdings die Ansicht ausgesprochen, daß mit der Erkenntnis
unseres tierischen Stammbaums weiter nichts erreicht sei, äls die
Entdeckung einer „Ahn eng a l l er ie“, wie man sie auf fürstlichen
Schlössern findet. Dieses Urteil würde richtig sein, wenn unsere
im zweiten Teile der Anthropogenie begründete Progonotaxis
weiter nichts wäre, als die reihenweise Zusammenstellung von ähnlichen
Tierformen, deren genetischen Zusammenhang wir nach der
äußeren Aehnlichkeit ihrer Physiognomie vermuteten. Wie wir
oben genügend bewiesen zu haben glauben, handelt es sich für
uns um etwas ganz anderes, um den morphologischen und historischen
Nachweis des phylogenetischen Zusammenhangs jener
Ahnenkette auf Grund ihrer Uebereinstimmung im inneren
Körperbau und in der Keimesgeschichte; und bis zu welchem
Maße gerade diese geeignet ist, uns das Verständnis ihres inneren
We s ens und seiner historischen Entwickelung zu eröffnen, das
glaube ich im ersten Teile dieses Buches hinreichend gezeigt zu
haben. Gerade in dem Nachweise des historischen Zusammenhanges