
Verhältnisse ins Auge zu fassen, welche für das Verständnis der
betreffenden Vorgänge nicht bedeutungslos sind.
Zunächst dürften hier einige Bemerkungen über die Z e i t räume
am Orte sein, in denen die Entwickelung des Menschengeschlechts
aus dem Tierreiche erfolgt ist. Der erste Gedanke,
welcher sich uns bei Betrachtung der einschlagenden Verhältnisse
auf drängt, ist der des ungeheuren Unterschiedes zwischen den Zeiträumen
der menschlichen Keimesgeschichte und Stammesgeschichte.
Die kurze Zeitspannen in welcher die Ontogenesis des menschlichen
Individuums erfolgt, steht in gar keinem Verhältnis zu dem unendlich
langen Zeiträume, dér zur Phylogmesis des menschlichen Stammes
erforderlich war. Das menschliche Individuum bedarf zu Seiner vollständigen
Entwickelung von der Befruchtung der Eizelle an bis zu
dem Momente, wo es geboren wird und den Mutterleib verläßt, nur
neun Monate. Der menschliche Embryo durchläuft also seinen
ganzen Entwickelungsgang in dem kurzen Zeiträume von vierzig
Wochen (meistens genau 280 Tagen). Und um so viel ist eigentlich
jeder Mensch älter, als man gewöhnlich annimmt. Wenn man das
Alter eines Kindes z. B. auf neun und ein viertel Jahre angibt, so ist
dieses Kind in Wahrheit zehn Jahre alt. Denn der Beginn der individuellen
Existenz fällt tatsächlich nicht in das Moment der Geburt ,
sondern in das Moment der B e f ru ch tu ng (vergl. S. 157).
Bei vielen anderen Säugetieren ist die Zeitdauer der embryonalen
Entwickelung ziemlich dieselbe wie beim Menschen, so z. B.
beim Rinde. Beim Pferd und Esel beträgt sie etwas mehr, nämlich
43—45 Wochen; beim Kameel schon 13 Monate. Bei den
größten Säugetieren braucht der Embryo zu seiner vollständigen
Ausbildung im Mutterleibe bedeutend längere Zeit, so z. B. beim
Rhinoceros i 1/^ Jahr, beim Elefanten gó Wochen. Die Schwangerschaft
dauert hieralso mehr als doppelt so lange wie beim Menschen,
fast i%- Jahr. Bei den kleineren Säugetieren ist umgekehrt die
Zeitdauer der embryonalen Entwickelung viel kürzer. Die kleinsten
Säugetiere, die Zwergmäuse, entwickeln sich in 3 Wochen vollständig;
die Kaninchen und Hasen in einem Zeiträume von 4
Wochen, Ratte und Murmeltier in 5 Wochen, der Hund in 9, das
Schwein in 17 Wochen, das Schaf in 21 und der Hirsch in 36
Wochen. Noch rascher entwickeln sich die Vögel. Das Hühnchen
im bebrüteten Ei braucht zu seiner vollen Reife unter normalen
Verhältnissen einen Zeitraum von 3 Wochen oder genau
21 Tagen. Hingegen braucht die Ente 25, der Truthahn 27, der
Pfau 31, der Schwan 42 und der neuholländische Casuar 65 Tage.
Der kleinste Vogel, der Colibri, verläßt das Ei schon nach 12 Tagen.
Es steht also offenbar die Entwickelungsdauer des Individuums
innerhalb der Eihüllen bei den Säugetieren und Vögeln in einem
gewissen Verhältnis zu der absoluten Körpergröße,, welche die
betreffende Wirbeltierart. erreicht. Doch ist diese letztere nicht
allein die maßgebende Ursache der ersteren. Vielmehr kommen
noch viele andere Umstände hinzu, welche die Dauer der individuellen
Entwickelung innerhalb der Eihüllen beeinflussen. Beim
Amphioxus verlaufen die ersten und wichtigsten Keimungsvorgänge
so erstaunlich rasch, daß schon nach 4 Stunden die Blastula,
nach 6 Stunden die Gastrula und nach 24 Stunden das typische
Wirbeltier fertig ist.
Auf alle. Fälle erscheint die Zeitdauer der Ontogenese verschwindend
kurz, wenn wir sie mit dem ungeheuren, unendlich
langen Zeiträume vergleichen, innerhalb dessen die Phylogenese
oder die allmähliche Entwickelung der Vorfahrenreihe stattgefunden
hat. Dieser Zeitraum mißt nicht nach Jahren und Jahrhunderten,
sondern nach Jahrtausenden und Jahrmillionen. In der
Ta t sind viele Jahrmillionen verstrichen, ehe sich aus dem uralten
einzelligen Stammorganismus allmählich Stufe für Stufe der vollkommenste
Wirbeltier-Organismus, der Mensch, historisch entwickelt
hat; Die Gegner der Abstammungslehre, welche diese stufenweise
Entwickelung der Menschenform aus niederen Tierformen und
ihre ursprüngliche Abstammung von einem einzelligen Urtiere für
ein 'unglaubliches Wunder erklären, denken nicht daran, daß sich
ganz dasselbe Wunder bei der embryonalen Entwickelung jedes
menschlichen Individuums tatsächlich in der kurzen Zeitspanne
von neun Monaten vor unseren Augen vollzieht. Dieselbe Reihenfolge
von mannigfach verschiedenen Gestalten, welche unsere
tierischen Vorfahren im Laufe vieler Jahrmillionen durchlaufen
haben, dieselbe Gestaltenfolge hat jeder von uns in den ersten
40 Wochen (— eigentlich schon in den erstens Wochen -ö) seiner
individuellen Existenz im Mutterleibe durchlaufen.
Nun erscheinen uns aber alle organischen Formverwandlungen,
alle Metamorphosen der Tier- und Pflanzengestalten um so merkwürdiger
und wunderbarer, je schneller sie vor sich gehen. Wenn
daher unsere Gegner die historische Entwickelung des Menschengeschlechts
aus niederen Tierformen für einen unglaublichen Vorgang
erklären, so müssen sie die embryonale Entwickelung des
menschlichen Individuums aus der einfachen Eizelle im Vergleiche
damit für ein noch viel unglaublicheres Wunder halten. Diese