
Auch für die Stammesgeschichte der letzteren, wie für diejenige der
ersteren, ist die vergleichende Anatomie von viel höherer Bedeutung
als die Keimesgeschichte. Die ergebnisreichen Untersuchungen
zur vergleichenden Myologie der Wirbeltiere von Max Fürbringer,
Georg Rüge, Hans Gadow, L. Testut u. a. haben neuerdings
gezeigt, welche reiche Ernte hier noch der Arbeiter harrt. Aber die
vergleichende Anatomie .und Ontogenie des Muskelsystems ist
viel schwieriger und unzugänglicher, daher auch bis jetzt noch sehr
wenig bearbeitet; somit können wir auch von der Phylogenie desselben
nur ganz allgemeine Vorstellungen haben.
Unstreitig hat sich die vielfach gegliederte Muskulatur der
Wirbeltiere aus derjenigen niederer wirbelloser Tiere hervorgebildet,
wobei in erster Linie die ungegliederten Vermalien in Betracht
kommen. Diese besitzen einen einfachen, aus dem Mesoderm entstandenen
„Hautmuskel s chlauch“. Derselbe wurde später verdrängt
durch ein paar innere Seitenmuskeln, welche sich aus der
Medialwand der Coelomtaschen entwickelten; aus der „Muskelplatte“
der letzteren sehen wir ja auch heute noch die erste Anlage
der Muskulatur im Keime sämtlicher Wirbeltiere entstehen
(vergl. Taf. VI, VII mp, sowie Fig. 268— 275, 361,. 362 mp).
Bei den ungegliederten Stammformen der Chordonier, die wir als
„UrChordatiere“ (Prochordonia) bezeichneten, waren die beiden
Coelomtaschen, und also auch die „Muskelplatten“ ihrer Wand,
noch nicht segmentiert. Ein bedeutungsvoller Fortschritt war die
segmentale Gliederung derselben, wie wir sie bei Amphioxus
Schritt für Schritt verfolgt haben (Fig. 267— 272, S. 480—482).
Diese Metamer ie der Muskula tur war der folgenschwere
historische Prozeß, mit welchem die Ve r tebra t ion, die Entstehung
des Wirbelstammes begann. Erst sekundär trat zu dieser
Gliederung des Muskelsystems diejenige des Skelettsystems, hinzu,
die sich weiterhin in inniger Wechselbeziehung oder Korrelation
zu jener ausbildete.
Die Episomi ten oder dorsalen Coelomtaschen der Acranier,
Cyclostomen und Selachier (Fig. 416 h) entwickeln nun zunächst
aus ihrer inneren oder medialen Wand (— aus der Zellenschicht,
welche unmittelbar der Skelettplatte [sä] und dem Markrohr \nr)
anliegt —) eine starke Muske lplat t e {mp). Durch dorsales
Wachstum {ui) greift dieselbe auch auf die äußere oder parietale
Wand der Coelomtasche über und wächst von der Rücken wand
in die Bauchwand hinein. Aus diesen segmentalen Muskelplatten,
welche die Metamerie der Vertebraten in erster Linie bewirken,
gehen die Seitenmuskeln-oder Lateralmuskeln des Stammes
hervor, wie sie in einfachster Form Amphioxus zeigt (Fig. 236).
■ „16 und 417 Querschnitte durch Haifischembryonen (durch die
£ig- 4 10 1111. 4 / " lir.j Tfp-rfim'fr In Fie. 417 sind die dorsalen
■ H T ' P 4 D A„Tta Skelettplatte, mp Muskelplatte, cp Cutisplatte, w Verparietales,
mk2 viscerales), ik inneres Keimblatt (Daimdrusenblatt).
Durch Ausbildung eines horizontalen F r o n t a l s e p t um zerfallen
dieselben jederseits in eine obere und eine untere Myotomreihe:
dorsale und ventrale Seitenmuskeln. In typischer Regelmäßigkeit
zeigt dieselben der Querschnitt jedes Fischschwanzes (Fig. 418).
Aus diesen alten „Seitenrumpfmuskeln“
geht der größte Teil der späteren
Rumpfmuskulatur hervor, auch die
viel jüngeren „Muskelknospen“ der
Gliedmaßen U6).
Fig. 418. Querschnitt eines Fischschwanzes
(vom Thunflsch). Nach Johannes^
Müller, a obere (dorsale) Seitenmuskeln, a , b
untere (ventrale) Seitenmuskeln, d Wubelkorper,
b Durchschnitte unvollständiger Kegelmäntel, B A nsatzlinien
der Zwischenmuskelbänder (von der Seite).