
scheinbaren Rückschritt in der Ausbildung des Gefäßsystems überrascht.
Wie Sie bereits wissen, besitzt der Amphioxus kein eigentliches
Herz, sondern das farblose Blut wird in seinem Gefäßsystem
durch die Hauptgefäßstämme selbst umherbewegt, die sich
in ihrer ganzen Länge pulsierend zusammenziehen (vergl. Fig. 245,
S. 445). Ein über dem Darm gelegenes Rückengefäß (Aorta)
nimmt das arterielle Blut aus den Kiemen auf und treibt es in den
Körper. Von hier zurückkehrend, sammelt sich das venöse Blut
in einem unter dem Darm gelegenen Bauchgefäß (Darmvene) und
kehrt so zu den Kiemen zurück. Zahlreiche Kiemengefäßbogen,
welche die Atmung vermitteln und in der Wand des Kiemendarms
vom Bauch zum Rücken emporsteigen, nehmen aus dem
Wasser Sauerstoff auf und geben Kohlensäure ab, sie verbinden
das Bauchgefäß mit dem Rückengefäß. Da bei den Ascidien
bereits derselbe Abschnitt des Bauchgefäßes, der auch bei den
Schädeltieren das Herz bildet, sich zu einem einfachen Herzschlauche
ausgebildet hat, so können wir den Mangel des letzteren
beim Amphioxus als eine Folge von Rü c k b i ld u n g ansehen,
als einen bei diesem Acranier erfolgten Rü c k s c h l a g in die
ältere Form des Gefäßsystems, wie sie viele Würmer besitzen.
Wir dürfen annehmen, daß diejenigen Acranier, die wirklich in
unsere Ahnenreihe gehörten, diesen Rückschlag nicht geteilt, vielmehr
das einkammerige Herz von den Prochordoniern geerbt
und auf die ältesten Schädeltiere direkt übertragen haben (vergl.
das ideale Urwirbeltier, Prospondylus, Fig. 101, 103, S. 270).
Die weitere phylogenetische Ausbildung des Gefäßsystems legt
uns die vergleichende Anatomie der Schädeltiere oder Craniöten
klar vor Augen. Auf der tiefsten Stufe dieser Gruppe, bei den
Cyclostomen, begegnen wir zum ersten Male der Sonderung des
Vasorium in zwei verschiedene Hauptteile, ein eigentliches B lu t g
e fäß s y s t em, dessen Röhren das rote Blut im Körper umherführen,
und ein Lymp hg e fäß s y s t em, dessen Kanäle die
farblose Lymphe aus den Geweben aufsaugen und dem Blutstrom
zuführen. Diejenigen Lymphgefäße, welche die milchige,
direkt durch die Verdauung gewonnene Ernährungsflüssigkeit
aus der Darm wand auf saugen und dem Blutstrom zuführen, werden
unter dem besonderen Namen der C.hylusgefäße oder „Milchgefäße“
unterschieden. Während der Chylus oder Milchsaft vermöge
seines starken Gehaltes an Fettkügelchen milchweiß erscheint,
ist die eigentliche „Lymphe“ farblos. Sowohl Chylus als Lymphe
enthalten dieselben farblosen amoeboiden Zellen (Leukocyten, Fig. 12),
welche auch im Blute als „farblose Blutzellen“ verteilt sind; letzteres
enthält aber außerdem die viel größere Masse von roten Blutzellen,
welche dem Blute der Schädeltiere seine rote Farbe verleihen
(Rhodocyten, Fig. 444). Die bei den Craniöten allgemein vorhandene
Scheidung zwischen Lymphgefäßen, Chylusgefäßen und
Blutgefäßen kann als eine Folge der Arbeitsteilung angesehen
werden, welche zwischen verschiedenen Abschnitten eines ursprünglich
einheitlichen „Urblutgefäßsystems“ (oder Haemolymph-
systems) stattgefunden hat. Bei den Gnathostomen tritt zum
ersten Male die Mi lz {Lien) auf, ein blutreiches Organ, dessen
F unktion hauptsächlich in der massenhaften Neubildung von farblosen
und roten Blutzellen besteht. Die Milz fehlt noch den
Acraniern und Cyclostomen, sowie sämtlichen Wirbellosen. Von
den ältesten Fischen hat sie sich auf sämtliche Craniöten vererbt.
Fig/453. Kopf eines Fisch- 7
embryo, mit der Anlage des Blut- c '
gefäßsystems, von der linken Seite.
de Cuvierscher Gang (Vereinigung der
vorderen und hinteren Hauptvene),
sv venöser Sinus (erweitertes Endstück
des Cuvierschen. Ganges), «V o r kammer,
v Hauptkammer, abr Kiemenarterienstamm,
s Kiemenspalten (dazwischen
die Arterienbogen), ad Aorta,
c Kopfarterie (Carotis), »Nasengrube.
Nach Gegeribaur.
Auch das Herz , das bei allen Craniöten vorhandene Zentralorgan
des Blutkreislaufs, zeigt uns bei den Cyclostomen bereits
einen Fortschritt der Bildung. Der einfache spindelförmige Herzschlauch,
der beim Embryo aller Schädeltiere in derselben Form
angelegt wird, sondert sich bei den Rundmäulern in zwei Abschnitte
oder Kammern, die durch ein paar Klappen getrennt
sind (Taf. XIX, Fig. 16 hv, hk). Der hintere Abschnitt, die V o r kam
m e r {Atrium, hv), nimmt das venöse Blut aus den Körpervenen
auf und übergibt dasselbe dem vorderen Abschnitt, der
„Kammer“ oder Hauptkammer {Ventriculus, hk). Von hier wird
dasselbe durch den Kiemenarterienstamm (den vordersten Abschnitt
des Bauchgefäßes oder der Principalvene) in die Kiemen getrieben.
Bei den Urfischen oder Selachiern sondert sich aus dem
vordersten Ende der Kammer als besondere, durch Klappen geschiedene
Abteilung ein A r t e r i e n s t.i e L {Conus arteriosus). Er
geht über in die erweiterte Basis des Kiemenarterienstammes
(Fig. 453 abr). Jederseits gehen 5—7 Kiemenarterien davon ab.