
Um nun eine Anschauung von den Grundzügen der Entwickelungsgeschichte
des menschlichen Skeletts zu erlangen, müssen wir
zunächst die Zusammensetzung desselben beim entwickelten Menschen
übersichtlich ins Auge fassen (vergl. die 48ste Tabelle und
Fig. 390, das Skelett des Menschen von der rechten Seite, ohne
Arme; Fig. 391, das ganze Skelett von vorn). Wie bei allen
anderen Säugetieren, so unterscheiden wir auch beim Menschen
zunächst das Ac h s e n s k e l e t t oder Rückgrat
und das Gl ied e r s k e l e t t oder das Knochengerüst
der Gliedmaßen. Das Rückgrat (Chordo-
skeleton) besteht aus der Wirbelsäule oder dem
Rumpfskelett, und aus dem Schädel oder dem
Kopfskelett; das letztere erscheint als das eigentümlich
umgebildete vorderste Stück des ersteren.
Als Anhänge an der Wirbelsäule finden wir die
Rippen, am Schädel das Zungenbein und den Unterkiefer,
und die anderen Produkte der Kiemenbogen.
Das Gl i edmaß ens k e l e t t (Meloskeleton)
oder das Knochengerüste der zwei • Paar Gliedmaßen
(Extremitäten) setzt sich aus zweierlei verschiedenen
Teilen zusammen, aus dem Gerüste
der eigentlichen, frei vorspringenden Extremitäten
(.Podoskeleton) und aus dem inneren Gürtelskelett,
durch das die letzteren sich mit der Wirbelsäule
verbinden (Zonoskeleton). Das Gürtelskelett der
Arme (oder „Vorderbeine“, Carpomela) ist der
S chul t e rgür t e l (Scapulozond); das Gürtelskelett
der Beine (oder eigentlich der „Hinterbeine“, Tarso-
mela) bildet der B e c k e n g ü r t e l (Pelycozdha).
Fig. 392. Die Wirbelsäule des Menschen (in aufrechter
Stellung, von der rechten Seite). Nach H . Meyer.
Die knöchere Wi rbe l s äu l e des Menschen (Columna verte-
bralis oder Vertebrarium, Fig. 392) ist aus 33—35 ringförmigen
Knochenstücken zusammengesetzt, welche in einer Reihe hinter-
einander (bei der gewöhnlichen aufrechten Stellung des Menschen
übereinander) liegen. Diese Knochenstücke, die Wi rb e l (Verte-
brae), sind durch elastische Polster, die Zwischenwirbelscheiben
(Ligamenta intervertebralia), voneinander getrennt und zugleich
durch Gelenke miteinander verbunden, so daß die ganze Wirbel-:
säule zwar ein festes und solides, aber dóch zugleich biegsames
XXVI. Die Wirbelsäule des Menschen. 769
und elastisches, nach allen Richtungen frei bewegliches Achsengerüste
darstellt. In den verschiedenen Gegenden des Rumpfes
zeichnen sich die Wirbel durch verschiedene Gestalt und Verbindung
aus, und danach unterscheidet man an der menschlichen
Wirbelsäule in der Richtung von oben nach unten folgende
Gruppen: 7 Halswirbel, 12 Brustwirbel, 5 Lendenwirbel, 5 Kreuzwirbel
und 4—6 Schwanzwirbel. Die obersten, zunächst an den
Schädel anstoßenden sind die Ha l swi rbe l (Fig. 393), ausgezeichnet
durch ein Loch, welches sich in jedem der beiden seitlich
abgehenden Querfortsätze findet. Die Zahl der Halswirbel beträgt
beim Menschen sieben, und ebenso bei fast allen übrigen Säugetieren,
mag nun der Hals so lang sein wie beim Kamel und der
Giraffe, oder so kurz wie beim Maulwurf und Igel. Diese beständige
Siebenzahl , welche nur wenige (durch Anpassung
Fig- 393- Fig- 394- Fig- 395-
Fig. 393. Der dritte Halswirbel des Menschen.
Fig- 394- Der sechste Brustwirbel des Menschen.
Fig- 395- Der zweite Lendenwirbel des Menschen.
erklärte) Ausnahmen hat, ist ein redender Beweis für die gemeinsame
Descendenz aller Säugetiere; sie läßt sich nur durch die
strenge V e r e rb u n g von einer gemeinsamen Stammform erklären,
von einem Ursäugetier, welches sieben Halswirbel besaß.
Wäre jede Tierart für sich geschaffen worden, so würde es viel
zweckmäßiger gewesen sein, die langhalsigen Säugetiere mit einer
größeren, die kurzhalsigen mit einer kleineren Anzahl von Halswirbeln
auszustatten. Auf die Halswirbel folgen zunächst die
Brus twi rbe l , deren Zahl beim Menschen wie bei den meisten
änderen Säugetieren 12— 13 beträgt (gewöhnlich 12). Jeder Brustwirbel
(Fig. 394) trägt seitlich, durch Gelenke verbunden, ein Paar
Rip pen, lange Knochenspangen, welche in der Brustwand liegen
und diese stützen. Die zwölf Rippenpaare bilden zusammen mit
den verbindenden Zwischenrippenmuskeln und mit dem Brustbein,
welches vorn die Enden der rechten und linken Rippen verbindet,
H a e c k e l, Anthropogenie. 5. Aufl. 49