
erkannte zuerst 1809 ihre fundamentale Bedeutung, und deshalb
können wir seine darauf gegründete Descendenztheorie mit Fug
und Recht Lama r cki smus nennen. Die prinzipiellen Gegner
der letzteren haben daher auch mit Recht ihre Angriffe vor
allem gegen die erstere gerichtet. Einer der angesehensten und
zugleich der beschränktesten dieser Gegner, Wilhelm H is, behauptet
mit voller Bestimmtheit, „daß die im individuellen Leben
erworbenen Eigenschaften sich nicht vererben“. Die unzähligen
Bewe i s e für letztere-Tatsache erklärt er für eine „Handvoll
Anekdoten, welche lebhaft an die Beweise für das Ve r s ehen
S chwan g e r e r erinnern und auf wissenschaftliche Beachtung
keinen Anspruch machen dürfen“.
Noch weiter als der „exakte“ Anatom Wilhelm His in Leipzig
geht sein Gesinnungsgenosse und Freund, der „exakte“ Physiologe
Victor Hensen in Kiel; derselbe Leiter der berühmten Kieler
„Plankton-Expedition“, der die großartigen Erscheinungen des pelagischen
Tierlebens im Meere dadurch exakt zu erklären sucht,
daß er zählen läßt, wie viel Milliarden Individuen jeder Tierart
in einer Kubikmeile Seëwasser leben. Indem Hensen die pseudomechanischen,
im dritten Vortrage- (S. 55) beleuchteten Theorien
von His bewundert und ihre Widerlegung Jür „undenkbar“, erklärt,
stattet er ihm seinen bësonderen Dank dafür ab, daß er die
Entwickelungsgeschichte von der Notwendigkeit befreit habe, ihre
Erscheinungen durch die „myst eriö se Erb l i ch k e i t “ zu erklären.
Nach der Ansicht jener beiden „exakten Embryologen“
ist das Biogenetische Grundgesetz vollkommener Unsinn und die
Betrachtung der V e r e rb u n g am besten ganz aus unserer Wissenschaft
zu entfernen. Mit demselben Rechte könnte man vom
Physiker verlangen, daß er das Studium der Gravitation oder der
Elektrizität aufgebe, weil uns das eigentliche Viesen dieser Kräfte
und des fundamentalen Substanz-Gesetzes unbekannt ist124).
Indessen wurde die „Vererbung erworbener Eigenschaften“
nicht nur von diesen prinzipiellen Gegnern der Descendenztheorie
geleugnet, sondern auch von solchen Naturforschern, welche die
letztere anerkennen und selbst zu deren Ausbildung vieles beigetragen
haben; namentlich von Weismann, Galton, Ray-Lankester
u. a. Dér gewichtigste Gegner wurde seit 1884 August
Weismann, der sich um die Ausbildung von Darwins Selektions-
theofie die größten Verdienste erworben hatte. Er vertrat in
seiner Abhandlung über „die Kontinuität des Keimplasmas als
Grundlage einer Theorie der Vererbung“, und neuerdings in seinen
vortrefflichen „Vorträgen über Descendenztheorie“ (1902), mit großem
Erfolge die Anschauung, daß „nur solche Charaktere auf die
folgende Generation übertragen werden können, welche der Anlage
nach schon - im Keime enthalten waren“. Jedoch ist diese
Keimplasmatheorie und der damit verknüpfte Versuch, die Vererbung
zu erklären, eine „provisorische Molekularhypothese ; sie
gehört zu jenen metaphysischen Spekulationen, welche die Entwickelungserscheinungen
ausschließlich durch innere Ur sachen
erklären und den Einfluß der Außenwelt für bedeutungslos halten.
Zu welchen unhaltbaren Folgerungen dieselbe führt, haben Herbert
Spencer, Theodor Eimer, Lester Ward, Hering und Zehnder
gezeigt. Ich selbst habe meine Ansicht darüber bereits in der
letzten (X.) Auflage meiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte“
ausgesprochen (S. 192, 203). Ich halte mit Lamarck und Darwin an
der Ansicht fest, daß die erbliche Uebertragung erworbener Eigenschaften
eine der wichtigsten biologischen Erscheinungen ist und
durch Tausende von morphologischen und physiologischen Erfahrungen
klar bewiesen wird. D ie Ve r e rb u n g von A n p a ß malen
ist ein unentbehr l i che s . Fundament der D e sc
endenztheor ie.
Unter den zahlreichen und wichtigen Zeugnissen, welche die
Wahrheit dieser Auffassung unserer Entwickelungsgeschichte begründen,
will ich hier nur nochmals die unschätzbaren Schöpfungsurkunden
der „Dy s t e leolog ie “ oder „Un zwe c kmä ß i g k e i t s lehre“
hervorheben, der hochinteressanten Wissenschaft von den
„rudimentären Organen“. Nicht oft und nicht dringend genug
kann man die hohe morphologische Bedeutung dieser merkwürdigen
Körperteile betonen, welche in physiologischer Beziehung
völlig wertlos und unnütz sind. In jedem Organsystem
finden wir beim Menschen wie bei allen höheren Wirbeltieren
solche uralte we r t lose Erbs tücke , die wir von unseren niederen
Wirbeltierahnen geerbt haben. So treffen wir zunächst auf unserer
äußeren Hautbedeckung das spärliche rudimentäre Haarkleid, an,
welches nur noch am Kopfe, in den Achselhöhlen und an einigen
anderen Körperstellen stärker entwickelt ist. Die kurzen Härchen
auf dem größten Teil unserer Körperoberfläche sind völlig nutzlos
für uns, ohne jede physiologische Bedeutung; sie sind der
letzte dürftige Ueberrest von dem viel stärker entwickelten Haarkleide
unserer Affenahnen. Eine Reihe der merkwürdigsten rudimentären
Organe bietet uns der Sinne sappa r a t dar. Wir
haben gesehen, daß die ganze äußere Ohrmuschel mit ihren