
Um sich recht klar von diesem bedeutungsvollen Verhältnis
zu überzeugen, ist besonders lehrreich die Vergleichung des Am-
phioxus mit den jugendlichen Entwickelungsformen derjenigen
Wirbeltiere, welche ihm im natürlichen Systeme dieses Stammes
am nächsten stehen. Das ist die Klasse der Rundmäuler oder
Cyclostomen. Heutzutage leben von dieser merkwürdigen,
früher umfangreichen Tierklasse nur noch sehr wenige Arten, die
sich auf zwei verschiedene Gruppen verteilen. Die eine Gruppe
bilden die Inger oder My xino iden, welche uns durch Johannes
Müllers klassisches Werk, „Die vergleichende Anatomie der Myxi-
noiden“, genau bekannt geworden sind. Die andere Gruppe bilden
die Pe t romy zont en, die allbekannten Lampreten, Pricken oder
Neunaugen, die wir in mariniertem Zustande als Leckerbissen verzehren.
Alle diese Rundmäuler werden gewöhnlich zur Klasse der
Fische gerechnet' Sie stehen aber tief unter den wahren Fischen
und bilden aeine höchst interessante Verbindungsgruppe zwischen
diesen und dem Lanzettierchen. Wie nahe sie dem letzteren stehen,
werden Sie klar erkennen, wenn Sie eine jugendliche Pricke (Petro-
myzon, Taf. XIX, Fig. 16) mit dem Amphioxus (Fig. 15) vergleichen.
Die Chorda (ch) ist in. beiden von derselben einfachen
Gestalt, ebenso das Markrohr (m), welches über der Chorda, und
das Darmrohr (d), welches unter der Chorda Hegt. Jedoch schwillt
das Markrohr bei der Pricke vorn bald zu einer einfachen, bimförmigen
Gehirnblase an (?%), und beiderseits derselben erscheint
ein einfachstes Auge (au) und ein einfaches Gehörbläschen (g).
Die Nase (n) ist eine unpaare Grube, wie beim Amphioxus. Auch
die beiden Darmabschnitte, der vordere Kiemendarm (k) und der
hintere Leberdarm (d), verhalten sich bei Petromyzon noch ganz
ähnlich und sehr einfach. Hingegen zeigt sich ein wesentlicher
Fortschritt in der Organisation des Herzens, welches hier unterhalb
der Kiemen als ein zentralisierter Muskelschlauch auftritt
und in eine Vorkammer (hv) und Hauptkammer (hk) zerfäHt. Späterhin
entwickelt sich die Pricke bedeutend höher, bekommt einen
Schädel, fünf Himblasen, eine Reihe selbständiger Kiemenbeutel
u. s. w. Um so interessanter ist aber die auffallende Ueberein-
stimmung ihrer jugendhchen unreifen „Larve“ mit dem entwickelten
und geschlechtsreifen Amphioxus77),_
Während so der Amphioxus durch die Cyclostomen unmittelbar
an die Fische und dadurch an die Reihe der höheren Wirbeltiere
sich anschheßt, besitzt er auf der anderen Seite die nächste Verwandtschaft
mit einem niederen wirbellosen Seetiere, von dem er
auf den ersten BHck himmelweit verschieden zu sein scheint. Dieses
merkwürdige Tier ist die Seescheide oder As c id i e , welche man
früher als nächste Verwandte der Muscheln betrachtete und deshalb
in den Stamm der Weichtiere stellte. Nachdem wir aber im
Jahre 1866 die merkwürdige Keimesgeschichte dieser Tiere kennen
gelernt haben, unterKegt es keinem Zweifel mehr, daß sie gar nichts
mit den Weichtieren zu tun haben. Hingegen haben sie sich
durch ihre gesamte individuelle Entwickelungsweise zur größten
Ueberraschung der Zoologen als die nächsten Verwandten der
Wirbeltiere enthüllt. Die Ascidien sind im ausgebildeten Zustande
unförmliche Klumpen, die man auf'den ersten Anbhck sicher überhaupt
nicht für Tiere halten wird. Der länglich-runde, oft höckerige,
oder unregelmäßig knoHige Körper, an dem gar keine besonderen
äußeren Teile zu unterscheiden sind, ist am einen Ende auf Seepflanzen,
auf Steinen oder auf dem Meeresboden festgewachsen.
Manche Arten sehen wie eine Kartoffelknolle aus, andere wie ein
Melonencactus, andere wie eine eingetrocknete Pflaume. Viele
Ascidien bilden krustenartige, höchst unscheinbare Ueberzüge auf
Steinen und Seepflanzen. Einige größere Arten werden wie Austern
gegessen. Die Fischer, welche sie genau kennen, halten sie nicht
für Tiere, sondern für Seegewächse. So werden sie denn auch auf
den Fischmärkten vieler itahenischer Seestädte zusammen mit
anderen niederen Seetieren unter dem Namen „Meeresobst“ (Frutti
di mare) feil geboten. Es ist eben gar nichts vorhanden, was
äußerhch auf ein Tier hindeutet. Wenn man sie mit dem Schleppnetz
aus dem Meere heraufholt, bemerkt man höchstens eine
schwache Zusammenziehung des Körpers, welche ein Ausspritzen
von Wasser an ein paar Stellen zur Holge hat. Die meisten Ascidien
sind sehr klein, nur ein paar Linien oder höchstens einige Zoll
lang. Wenige Arten erreichen einen Fuß Länge oder etwas darüber.
Es gibt zahlreiche Arten von Ascidien, und in allen Meeren sind
dergleichen anzutreffen. Auch von dieser ganzen Tierklasse kennen
wir, wie von den Acraniern, keine versteinerten Ueberreste, weil
sie keine harten, versteinerungsfähigen Teile besitzen. Auch diese
Tiere sind jedenfalls sehr hohen Alters und existierten sicher bereits
während des primordialen Zeitalters.,8).
Den Namen Mante l t ie r e trägt die ganze Klasse, zu der
die Ascidien gehören, deshalb, weil der Körper von einer dichten
und festen Hülle, wie von einem Mantel, umschlossen ist. Dieser
Mantel, der bald gallertartig weich, bald lederartig zäh, bald knorpelartig
fest erscheint, ist durch viele Eigentümhchkeiten ausgezeichnet.