Diese klar nachweisbare Tatsache erläutert vortrefflich das
analoge Verhältnis in der Descendenz der Wirbeltierarten. Die
phylogenetische „vergleichende Sprachforschung“ unterstützt hier
als mächtiger Bundesgenosse die phylogenetische „vergleichende
Zoologie“. Die erstere kann aber den Beweis viel direkter führen,
als die - letztere, weil das paläontologische Material der Sprachforschung,
nämlich die alten Schriftdenkmale der ausgestorbenen
Sprachen, ungleich vollständiger erhalten sind, als das paläontologische
Material der Zoologie, als die versteinerten Knochen und
Abdrücke der Wirbeltiere.
Nun können wir aber den Stammbaum des Menschen nicht
allein auf die niederen Säugetiere, sondern auch weiter hinab auf
die Amphibien, noch weiter hinunter auf haifischartige Urfische
zurückführen, und endlich noch viel tiefer abwärts auf schädellose
Wirbeltiere, welche dem Amphioxus nahe standen. Das ist aber
niemals so zu verstehen, als ob der heute noch lebende Amphioxus,
die heutigen Haifische, die heutigen Amphibien uns irgend eine
genaue Vorstellung von dem äußeren Aussehen der betreffenden
Stammformen geben könnten. Noch viel weniger ist daran zu
denken, daß der Amphioxus, oder irgend ein Haifisch der Gegenwart,
oder irgend eine noch lebende Amphibienart eine wirkliche
Stammform der höheren Wirbeltiere und des Menschen sei. Vielmehr
ist jene wichtige Behauptung vernünftigerweise stets nur
so zu verstehen, daß die angeführten lebenden Formen S e i t e n linien
sind, welche den ausgestorbenen gemeinsamen Stammformen
viel näher verwandt und viel ähnlicher geblieben sind, als
alle anderen uns bekannten Tierformen. Sie sind ihnen in Bezug
auf den charakteristischen inneren Körperbau so ähnlich geblieben,
daß wir sie mit den unbekannten Stammformen zusammen in eine
Klasse stellen würden, wenn wir letztere lebend vor üns hätten.
Aber niemals haben sich direkte Descendenten der Urform unverändert
erhalten. ’ Daher bleibt die Annahme ganz ausgeschlossen,
daß unter den heute noch lebenden Tierarten direkte Vorfahren
des Menschengeschlechts in ihren charakteristischen äußeren
S pe c ie s fo rmen zu finden wären. Das Wesentliche und Charakteristische,
welches die lebenden Formen noch mit den gemeinsamen
ausgestorbenen Stammformen mehr oder weniger eng
verbindet, liegt im inneren Bau des Körpers, nicht in der
äußeren Speciesform. Die letzterb ist durch An p a s su n g vielfach
abgeändert. Der erstere hat sich durch V e r e rb u n g mehr oder
weniger erhalten.
Die vergleichende Anatomie und Ontogenie führt den unwiderleglichen
Beweis, daß d er Mensch ein echtes Wirbel t ie r ;
ist, und demnach muß auch der spezielle Stammbaum des Menschen
naturgemäß mit dem Stammbaum aller derjenigen Wirbeltiere Z u sammenhängen,
welche mit ihm von derselben gemeinsamen Wurzel
abstämmen. Nun können wir aber aus vielen gewichtigen Gründen
der vergleichenden Anatomie und Ontogenie fü r a l l e Wi r b e l t
ier e nur einen gemeinsamen Ur sprung annehmen, nur
eine monophy le t i s che Descendenz behaupten. Wenn ü b e r haupt
die De s c endenz theo r ie r i cht ig ist, so stammen
al le Wi rb e l t i e r e mit In b e g r i f f des Menschen von
einer e inz ig en gemeinsamen Stammform, von einem
längst ausgestorbenen „UrWirbeltier“ ab. Daher ist der Stammbaum
der Wirbeltiere zugleich der Stammbaum des Menschengeschlechts.
Unsere Aufgabe, den Stammbaum des Menschen zu erkennen,
erweitert sich demnach zu der umfassenderen Aufgabe,
den Stammbaum des ganzen Wi rb e l t i e r stamm es zu konstruieren.
Dieser hängt nun, wie Sie bereits aus der vergleichenden
Anatomie und Ontogenie des Amphioxus und der Ascidie wissen,
mit dem Stammbaum der wirbellosen Tiere zusammen, und zwar
unmittelbar mit demjenigen der Wurmt ie r e (Vermalia), während
kein Zusammenhang desselben mit den selbständigen Tierstämmen
der Gliedertiere, Weichtiere und Sterntiere nachzuweisen ist. Wenn
wir nun weiterhin unseren Stammbaum mit Hülfe der vergleichenden
Anatomie und Ontogenie durch verschiedene Stufen hinab
bis zu den niedersten Würmern verfolgen, so gelangen wir unfehlbar
zur Gas t raea, jener höchst wichtigen Tierform, die uns
das denkbar einfachste Urbild eines Tieres mit zwei Keimblättern
vorführt. Die Gastraea selbst ist aus der einfachen vielzelligen
Hohlkugel, Blas taea, entstanden, und diese letztere kann nur
wieder aus jenem , niedersten Kreise der einzelligen Tierformen
ihren Ursprung genommen haben, welche unter dem Noamen der
Ur t ie r e oder Protozoen zusammengefaßt werden. Unter
diesen haben wir bereits die für uns wichtigste Urform in Betracht
gezogen: die einzellige Amo ebe , deren außerordentliche Bedeutung
auf der Vergleichung mit der menschlichen Eizelle beruht.
Damit haben wir den tiefsten von den unerschütterlichen Punkten
erreicht, an welchem unser Biogenetisches Grundgesetz unmittelbar
zu verwerten ist, und an welchem wir aus dem embryonalen
Entwickelungszustande direkt auf die ausgestorbene Stammform