
ersten Blick es kaum für möglich halten wird, sie alle von der
Seele eines gemeinsamen „Urwirbeltieres“ abzuleiten. Denken Sie
nur zunächst an den kleinen Amphioxus, der noch kein eigentliches
Gehirn, sondern nur ein einfaches Markrohr besitzt, und dessen gesamte
Seelentätigkeit auf der niedersten Stufe unter den Wirbeltieren
stehen bleibt. Auch die zunächst darüber stehenden Cyclo-
stomen sind noch sehr beschränkt, obwohl sie ein Gehirn besitzen.
Gehen wir von da weiter zu den Fischen, so finden wir deren
Intelligenz bekanntlich auch auf einer sehr tiefen Stufe verharren.
Erst wenn wir von da höher zu den Amphibien und Reptilien aufsteigen,
nehmen wir wesentliche Fortschritte in der geistigen Entwickelung
wahr. Noch viel mehr ist das bei den Säugetieren der
Fall, obwohl auch hier bei den Gabeltieren und bei den zunächst
darüber stehenden, stupiden Beuteltieren alle Geistestätigkeiten
noch auf einer niedrigen Stufe stehen bleiben. Aber wenn wir von
hier zu den Zottentieren hinaufsteigen, so finden wir innerhalb
dieser formenreichen Gruppfr so zahlreiche und so bedeutende Stufen
in der Sonderung und Vervollkommnung vor, daß die Seelen-
Unterschiede zwischen' den dümmsten Placentaltieren (z. B. den
Faultieren und Gürteltieren) und den gescheidtesten Tieren dieser
Gruppe (z. B. den Hunden und Affen) viel bedeutender erscheinen
als die psychischen Differenzen zwischen jenen niedersten Placentaltieren
und den Beuteltieren oder Gabeltieren. Jedenfalls sind jene
Differenzen weit bedeutender als die Unterschiede im Seelenleben
der Hunde, Affen und Menschen. Und doch sind alle diese Tiere
stammverwandte Glieder einer einzigen natürlichen Klasse.
In noch viel überraschenderem Grade zeigt uns dasselbe die
vergleichende Psychologie einer anderen Tierklasse, welche aus
vielen Gründen unser spezielles Interesse erregt, nämlich der
Insektenklas se. Bekanntlich offenbart sich bei vielen Insekten
eine annähernd so hoch entwickelte Seelentätigkeit, wie sie innerhalb
der Wirbeltiergruppe nur der Mensch- besitzt. Sie kennen'
wohl die berühmten Gemeindebildungen und Staaten der Bienen
und Ameisen, und Sie wissen, daß hier höchst merkwürdige soziale
Einrichtungen sich finden, wie sie in dieser Entwickelung nur bei
den höher entwickelten Menschenrassen, sonst aber nirgends im
Tierreiche zu finden sind. Ich erinnere Sie bloß an die staatliche
Organisation und Regierung, welche die monarchischen Bienen
und diq republikanischen Ameisen besitzen, an ihre Gliederung in
verschiedene Stände: Königin, Drohnenadel, Arbeiter, Erzieher,
Soldaten u. s. w. Zu den merkwürdigsten Erscheinungen in diesem
höchst interessanten Lebensgebiete gehört jedenfalls die Viehzucht
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der Ameisen, welche die Blattläuse als Melkvieh züchten und
regelmäßig ihren Honigsaft abmelken. Noch merkwürdiger ist
freilich die Sklavenhalterei der großen roten Ameisen, welche die
Jungen der kleinen schwarzen Ameisenarten rauben und zu Sklavendiensten
auferziehen. Daß alle diese staatlichen und sozialen Einrichtungen
der Ameisen durch das planmäßige Zusammenwirken
zahlreicher Staatsbürger entstanden sind, und daß diese sich untereinander
verständigen, weiß man schon lange. Durch zahlreiche
vortreffliche Beobachter in neuerer Zeit, namentlich durch Fritz
Müller, John Lubbock und August Forel, ist die erstaunlich hohe
Entwickelung der Geistestätigkeit bei diesen kleinen Gliedertieren
außer Zweifel gestellt.
Nun vergleichen Sie damit einmal, wie es Darwin tut, die
Seelentätigkeit vieler niederen und namentlich vieler parasitischen
Insekten. Da gibt es z. B. Schildläuse {Coccus), die im erwachsenen
Zustande einen völlig unbeweglichen und auf den Blättern von
Pflanzen festgewachsenen schildförmigen Körper darstellen. Ihre
Füße sind verkümmert Ihr Schnabel ist in das Gewebe der
Pflanzen eingesenkt, deren Säfte sie aussaugen. Die ganze Seelentätigkeit
dieser regungslosen weiblichen Parasiten besteht in dem
Genüsse, den ihnen das Saugen dieser Säfte und der Geschlechtsverkehr
mit den beweglichen Männchen gewährt. Dasselbe gilt
von den madenförmigen Weibchen der Fächerflügler (Strepsiptera),
die flügellos" und fußlos ihr ganzes Leben parasitisch und unbeweglich
im Hinterleibe von Wespen zubringen. Von irgend welcher
höheren Geistestätigkeit ist da gar keine Rede. Wenn Sie nun diese
viehischen Parasiten mit jenen geistig so beweglichen und regsamen
Ameisen vergleichen, so werden Sie sicher zugeben, daß die psychischen
Unterschiede zwischen beiden viel größer sind als die Seelen-
Unterschiede zwischen den niedersten und höchsten Säugetieren,
zwischen den Gabeltieren, Beuteltieren und Gürteltieren einerseits,
den Hunden, Affen und Menschen anderseits. Und doch gehören
alle jene Insekten zu einer einzigen Gliedertierklasse, ebenso wie
alle diese Säugetiere zweifellos zu einer einzigen Wirbeltierklasse
gehören. Und ebenso wie jeder konsequente Anhänger der Entwickelungslehre
für alle jene Insekten eine gemeinsame Stammform
annehmen muß, ebenso muß er auch für alle diese Säugetiere
eine gemeinsame Abstammung notwendig behaupten.
Wenden wir uns nun von der vergleichenden Betrachtung
der Seelentätigkeit der verschiedenenen Tiere zu der Frage nach
den Organen dieser Funktion, so erhalten wir die Antwort, daß
dieselbe bei allen höheren Tieren stets an bestimmte Zellengruppen