
Schlüssel des Verständnisses für die großen und wichtigen Probleme
gegeben worden, welche Sich an das gründliche vergleichende
Studium des Schädels knüpfen. Hingegen hat sich eine andere
Schule der Schädelforschung, die sogenannte „Exakte Kraniologie“
(im Sinne von Virchow) um die Gewinnung jenes Verständnisses
umsonst bemüht. Daß diese deskriptive Schädellehre die mannigfaltigen
Formen und Größen Verhältnisse des menschlichen Schädels,
verglichen mit dem der anderen Säugetiere, möglichst genau zu
beschreiben und durch unzählige Messungen mathematisch zu
bestimmen versuchte, ist dankbar anzuerkennen. Allein das ungeheure
empirische Material, das dieselbe in einer umfangreichen
Literatur angehäuft hat, bleibt tote und unfruchtbare Gelehrsamkeit,
wenn dasselbe nicht durch die phylogenetische Spekulation belebt
und beleuchtet wird.
Die Namen der beiden großen Anatomen, die während des
letzten Jahres aus dem Leben geschieden sind-— Rudolf Virchow
im September 1902, sein Schüler Carl Gegenbaur im Juni 1903 —
bezeichnen gerade auf diesem weiten und vielbetretenen Gebiete
der K r an io lo g i e in sehr charakteristischer Weise den großen
Gegensatz der älteren deskriptiven und der neueren phylogenetischen
Forschung. Virchow beschränkte sich auf die genaueste Analyse
unzähliger einzelner Schädel des Menschen und der menschenähnlichsten
Säugetiere; er sah überall nur ihre Unterschiede und
suchte diese womöglich in Zahlen auszudrücken;- die Schädelbildungen
der niederen Wirbeltiere und ihr phyletischer Zusammenhang
mit den ersteren blieben ihm fremd. Gegenbaur umgekehrt
umfaßte mit weitem Blicke das ganze große Gebiet der Schädelforschung
von den niedersten und ältesten bis zu den höchsten
und jüngsten Wirbeltieren hinauf; er erkannte durch geistvolle
Synthese (im Sinne von Goethe und Johannes Müller) Aas gemeinsame
Urbild, das allen diesen unzähligen Schädelformen zu Grunde
liegt, und wies nach, daß sie alle nur Variationen eines und desselben
Themas seien; er zeigte ferner, daß der Schädel des Menschen,
ebenso wie aller kiefermündigen Wirbeltiere, ursprünglich aus dem
einfachen Primordialschädel der ältesten silurischen Selachier abzuleiten
ist (Fig. 403).
Wie wenig Virchow im stände war, diese bedeutungsvollen
Entdeckungen von Gegenbaur zu würdigen, beweist seine hartnäckige,
bis zu seinem Lebensende fortgesetzte Opposition gegen
die Descendenztheorie; ohne irgend einen Grund dagegen geltend
zu machen, ohne eine andere Erklärung an ihre Stelle zu setzen,
bekämpfte er sie als unbewiesene Hypothese. Die kläglichste
Rolle spielte er in dem Kampfe um die Deutung der fossilen
Menschenschädel von Spy und Neanderthal, und ihre Vergleichung
mit dem Schädel von Pithecanthropus (Fig. 401). Alle interessanten
Merkmale an diesen Schädeln, die den Uebergang vom Menschenaffen
zum Menschen klar beleuchten, erklärte Virchow für ganz
zufällige pathologische Veränderungen. Das Schädeldach von
Pithecanthropus (Fig. 405, }) sollte einem Affen angehören, weil
bei keinem Menschen eine so starke Orbitalstnktur vorkomme
(die horizontale Einschnürung zwischen äußerem Augenhöhlenrand
und Schläfe). Gleich darauf zeigte Nehring1U). an einem brasilianischen,
in den Sambaquis von Santos gefundenen Indianerschädel
(Fig. 405, 2) daß dieselbe Striktur beim Menschen noch
tiefer sein kann, als bei manchen Affen, Sehr lehrreich ist in
dieser Beziehung die Vergleichung des Schädeldaches (von oben
gesehen)" bei verschiedenen Herrentieren. Ich habe daher in
Fig. 405 (/|ä-p) neun solche Schädel von Primaten zusammengestellt
und auf gleiche Größe reduziert (von oben gesehen):
Fig. I ein hochstehender Europäer (Arier), Fig. 2 ein Brasilianer
a u s 'den Sambaquis (diluvialen Muschelhaufen), Fig. 3 der pliocäne
Affenmensch von Java (Pithecanthropus), Fig. 4 und 5 afrikanische
Menschenaffen (Gorilla und Schimpanse), Fig. 6 und 7 asiatische
Anthropoiden (Orang und Gibbon), Fig. 8 und g geschwänzte
Hundsaffen (Presbytis und Pavian). Auf dem Titelbilde des zweiten-
Teiles (Taf. XVII) habe ich die Schädel von acht anderen Primaten
in der Seitenansicht (Profil von der rechten Seite) zusammengestellt.
Unbefangene Vergleichung derselben lehrt auf den ersten
Blick, daß auch hier der Pithecometrasatz von Huxley gilt (S. 420).
An die Betrachtung des Schädels schließen wir diejenige der
Ki eme nb o g e n an, die schon von den älteren Naturphilosophen
als Ko p f r ip pen betrachtet wurden. (Vergl. Taf. VILI -XIU,
Taf I und XXIV, sowie Fig. 178— 180, S. 368.) Von den vier
ursprünglich angelegten Kiemenbogen der Säugetiere liegt der
erste zwischen der primitiven Mundöffnung und der ersten Kiemenspalte.
Aus der Basis dieses er sten Ki emenbö gens wächst
der „Oberkieferfortsatz“ hervor, der in der früher bereits beschriebenen
Weise sich mit dem inneren und äußeren Nasenfortsatze
jederseits vereinigt und die wichtigsten Teile des Oberkiefergerüstes
bildet (Gaumenbeine, Flügelbeine u. s. w.) (Vergl.
S 737) Der übrige Teil des ersten Kiemenbogens, den man nun
im Gegensätze dazu' als „Unterkieferfortsatz“ bezeichnet, bildet aus